Bild nicht mehr verfügbar.

Demonstrationen zum 1. Mai.

Foto: EPA/KERIM OKTEN

Der türkische Justizminister hat unlängst im Parlament eine Zahl genannt: 2.824. So viele Studenten sitzen derzeit - Stand Jänner 2012, Angabe vom August 2012 - in Gefängnissen des Landes, was angesichts von weit über zwei Millionen Studenten an türkischen Universitäten vielleicht nicht recht ins Gewicht fallen mag, andererseits aber zeigt, wie groß die Versuchung des akademischen Nachwuchses in der Türkei ist, strafbaren Handlungen nachzugehen: Eier werfen, Lieder singen, gar an Demonstrationen auf öffentlichen Straßen und Wegen teilnehmen.

Die Studienzeit ist in manchen Fällen auch eine Zeit des politischen Erwachens und des Austestens der Staatsmacht. Das ist wohlbekannt. Die Verhaftungskultur der türkischen Justiz lässt nun wenig Spielraum für solchen Freisinn, doch alles auf verbohrte Richter und übereifrige Staatsanwälte abzuschieben wäre wahrscheinlich falsch: Die Mehrheit in Politik und Gesellschaft will einen ordentlichen, gehorsamen Studenten ohne politische Faxen; für Minderheitenansichten gibt es keinen Grund. Dass Studenten auch für das Entrollen von Bannern inhaftiert werden, auf denen - wahnsinnig revolutionär - freie Bildung gefordert wird, ist ein Beleg dafür. Regierungschef Tayyip Erdogan kann ein solches Wahlversprechen abgeben, doch Studenten ist es nicht erlaubt, dasselbe zu verlangen.

Weniger als die Hälfte der 2.824 inhaftierten türkischen Studenten sind rechtskräftig verurteilt, die Mehrheit - 1.778 - sitzt in Untersuchungshaft und hat alle Monate einmal einen Verhandlungstermin oder auch nicht. 178 Studenten sind wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, 609 sind aus diesem Grund angeklagt. Die Wahl besteht zwischen PKK und DHKP-C, einer linksextremen Untergrundgruppe. Alle anderen inhaftierten Studenten gehören zur Gruppe Eier auf Minister werfender oder auf andere unziemliche Weise Staatsungehorsam demonstrierender Subjekte. Und 90 Prozent der inhaftierten Studenten sind Kurden.

Der Hochschulüberwachungsrat YÖK, von der Junta von 1980 ins Leben gerufen und mittlerweile mit AKP-gewogenen Geistern besetzt, hat dieser Tage die Richtlinien zur Verteilung von Flugblättern auf dem Universitätsgelände gelockert. Dieser Schritt soll die Verhaftungswut der türkischen Justiz bremsen, wiewohl diese sich natürlich nicht an Uni-Verwaltungsregeln halten muss. Wirklich frappierend jedoch ist der schwer wiegende Vorwurf der Unterstützung oder Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen (A oder B) und die mitunter sich lächerlich ausnehmenden Belege, die von Staatsanwälten angeführt und von den Richtern angenommen werden. Aufsehen erregte vor wenigen Monaten der Fall des Studenten Cihan Kirmizgülü, der ein poşu, ein Halstuch, trug, und deshalb zu elf Jahren Haft verurteilt wurde. Ein solches Tuch sollen auch maskierte Jugendliche getragen haben, die in einem Istanbuler Stadtteil Molotov-Cocktails in ein Geschäft geworfen hatten; Kirmizgülü stand an einer Bushaltestelle nahe des Tatorts.

Anschaulich wird die große Diskrepanz zwischen Terror-Vorwurf und -Beweis auch an den Fragen, die der derzeit in U-Haft sitzenden Studentin Ezgi Özgün gestellt wurden und die offenbar als Beweis für ihre Mitarbeit bei der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) gelten. Özgün hat die Fragen in der Öffentlichkeit verbreitet:

"Sie haben eine Presseerklärung veröffentlicht, in der freie Bildung verlangt wird. Wer genau erhebt diese Forderung?"

"Nehmen Sie an Sitzungen der Union der Arbeiter für Bildung und Wissenschaft teil?" (Gemeint ist wohl Eğitim-Sen, die größte Lehrergewerkschaft des Landes, Anm.)

"Haben Sie 2011 an den Demonstrationen zum 1. Mai auf dem Taksim-Platz teilgenommen?"

"Haben Sie an den Demonstrationen in der Stadt Kürecik in Malatya gegen den Raketenschild teilgenommen?" (In der ostanatolischen Kleinstadt steht nun - wieder - eine Radaranlage der US-Armee als Teil des Raketenabwehrsystems der NATO, Anm.)

Im Gegensatz zu Ezgi Özgün ist die französisch-türkische Studentin Sevil Sevimli, die am selben Tag, dem 9. Mai, von der Polizei abgeholt wurde und der genau derselbe Vorwurf der Mitgliedschaft in der DHKP-C gemacht wird, Anfang August aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Das ungleiche Maß der Justiz erklärt sich wohl aus dem Druck, den Frankreichs Diplomaten in der Türkei ausgeübt haben, und der massiven Berichterstattung über diesen Fall in der französischen Presse. Die 20-jährige Studentin aus der Nähe von Lyon nimmt an einem Erasmus-Programm teil und wechselte im vergangenen Wintersemester an eine türkische Universität. Allerdings ging sie nicht nur zur Mai-Demonstration am Taksim-Platz in Istanbul, sondern auch zu einem Konzert der linken Gruppe Yorum ... Sevimlis Anklage war ebenso wie jene gegen Ezgi Özgün den Anwälten gegenüber lange geheim gehalten worden. Die Türkei darf sie nicht verlassen, der nächste Verhandlungstermin ist Ende September vor einem Gericht in Bursa - und die Forderung der Staatsanwaltschaft: 32 und ein halbes Jahr Gefängnisstrafe. (Markus Bey, derStandard.at, 27.8.2012)