Mobilität habe auch eine "soziale Funktion", sagt Ministerin Doris Bures (SPÖ). Autofahren könne aber wieder zum Privileg werden, warnt Philosoph Konrad Paul Liessmann.

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DER STANDARD-Schwerpunktausgabe "Die Zukunft der Mobilität"

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Standard: Herr Liessmann, Sie fahren mehrere tausend Kilometer im Jahr mit dem Rennrad. Wie oft werden Sie da von Autofahrern gefährlich bedrängt?

Liessmann: Was ständig passiert, ist, dass man fast ignoriert und knappest überholt wird. Im Hirn mancher Autofahrer hat der Radfahrer offenbar immer Nachrang.

Standard: Wenn man die Diskussionen in Wien verfolgt, entsteht aber der Eindruck, die Radfahrer seien undisziplinierte Rüpel.

Liessmann: Verkehrsprobleme zu lösen, indem die objektiv schwächste Gruppe zum Gegenstand der Kritik gemacht wird, halte ich für problematisch. Natürlich wird es Rüpel geben, aber ein Radler verursacht an einem Auto höchstens einen Blechschaden, zuckt ein Autofahrer aus, ist der Fahrradfahrer tot.

Bures: Autofahrer gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger - das zeigt, dass vielerorts möglicherweise noch eine Mentalität vorherrscht, die heißt: Der Stärkere setzt sich durch, der Schwächere bleibt auf der Strecke. Das lehne ich ab. Erstaunlich ist dabei, dass sich die Einstellung jedes Einzelnen damit ändert, welches Verkehrsmittel er benützt. Wir haben 8,2 Millionen Einwohner und zirka sieben Millionen Fahrräder. Daraus kann ich ableiten, dass viele Autofahrer auch Radfahrer sind - und dennoch gibt es diese Konflikte.

Liessmann: Es gibt die philosophische These, die auf Günther Anders zurückgeht, dass unser Verhalten wesentlich von den Geräten bestimmt wird, die wir gebrauchen. Wir übernehmen die Logik der Geräte. Der Logik des Autos entspricht es nicht, Rücksicht zu nehmen, sondern Gas zu geben. Die Logik des Rades ist eine andere. Das erklärt, warum ein Radfahrer, der ein Auto fährt, nicht wie ein Radfahrer denkt, sondern wie ein Autofahrer.

Standard: Sind die Auseinandersetzungen in Österreich besonders schlimm?

Liessmann: Zum Teil ist es sicher eine Mentalitätssache. In Österreich ist das Auto lange privilegiert und dadurch auch fetischisiert worden. Es hat doch gegolten: Straßen sind nur für die Autos da! Alle anderen müssen sich um das, was übrigbleibt, prügeln. Schauen Sie sich die Ampelfrequenzen an. Wie lange sind Grünphasen für Autos, wie lange für Fußgänger? Manche Ampeln sind ja so geschaltet, dass selbst ein halbwegs sportlicher Typ im Laufschritt es nicht bei Grün schafft. Wir lernen erst langsam, dass es unterschiedliche, aber gleichberechtigte Benutzer der öffentlichen Verkehrsflächen gibt.

Bures: Der Wert des Autos in den 1970er-Jahren, das auch ein Wohlstandssymbol dargestellt hat, war in vielen anderen Ländern nicht in dem Ausmaß gegeben. Ich bin aber überzeugt, dass der Autofetischist, wie wir ihn in Österreich kennen, aussterben wird.

Standard: Was macht Sie da so sicher? Ohne Auto scheint es in Österreich nicht zu gehen: Laut einer Studie hätte selbst ein Benzinpreis von mehr als zwei Euro pro Liter bei jedem Zweiten keine Auswirkung auf das Fahrverhalten.

Bures: Da muss man sich die Ursachen ansehen. Es gibt viele Menschen, die heute noch auf das Auto angewiesen sind. Wenn es irgendwie leistbar ist, werden diese Autofahrer auch diese Benzinpreise zahlen. Nicht in den Ballungsräumen, dort ist der öffentliche Verkehr hervorragend. Beispiel Wien: Vor 20 Jahren hat jeder Mensch, kaum war er 18 Jahre alt, den Führerschein gemacht - vorher ist man Moped gefahren. Das ist heute anders. Jeder zweite Jugendliche in Wien unter 20 besitzt keinen Führerschein.

Standard: Ein neues Problem bringt der E10-Sprit. Man will an Rohstoffreserven sparen, opfert dafür Lebensmittel.

Liessmann: Zugespitzt gefragt: Was ist wichtiger? Dass Menschen essen oder dass Menschen Auto fahren? Wir tendieren offenbar zu Letzterem. Das wäre schon zynisch.

Bures: Beim E10 sind viele Fragen offen. Wir sollten auch nicht die Fehler anderer wiederholen. Denken Sie an die E10-Einführung in Deutschland. Dort hat sich beispielsweise nachher herausgestellt, dass es Autotypen gibt, deren Motoren den neuen Treibstoff nicht vertragen. Entsprechende Hinweise haben gefehlt. Möglicherweise ist es auch gar nicht nötig, Lebensmittel zu verspriten. Es gibt ja bereits Pilotprojekte, wo Treibstoff aus Abfällen gewonnen wird. Einfach zu sagen, E10 ist die Antwort auf die großen Klimaherausforderungen, halte ich wahrlich für zu kurz gegriffen.

Standard: Der Umweltminister glaubt das aber.

Bures: Ich halte es, wie gesagt, jedenfalls für zu kurz gegriffen.

Standard: Überholt sich der Autofetischismus auch, weil Autofahren vielleicht zu teuer wird?

Bures: Das ist sicher nicht mein Mobilitätskonzept. Mobilität hat für mich auch eine soziale Funktion. Mir geht es nicht darum, sie in gewissen Bereichen nur noch Reichen zu ermöglichen. Die Verpflichtung, die wir haben, ist, umweltfreundliche Verkehrsträger auszubauen. Stichwort: Modernisierung der Bahn.

Liessmann: Wenn der Individualverkehr zurückgedrängt werden soll, der Platz knapper und das Benzin teurer wird, könnte Autofahren wieder ein Privileg werden. Was den Ausbau des öffentlichen Verkehrs betrifft: Man hat ihn in der Vergangenheit lange zurückgebaut, weil ja ohnehin jeder Auto fährt. Wir hatten ja schon ein besseres Netz.

Bures: Weil es im ersten Moment billiger ist. Straßenbauen kostet einen Bruchteil von dem, was eine Eisenbahnstrecke kostet. Aber hier gibt es heute ja einen klaren Paradigmenwechsel: Erstmals werden Straßenbauvorhaben aus dem Bundesstraßengesetz gestrichen, und es fließen weit mehr Mittel in den Bau einer modernen Schieneninfrastruktur als in den Bau neuer Straßen.

Liessmann: Es ist zum Teil erschütternd: Ich habe einen Reiseführer aus dem Jahr 1910. Damals war man mit der Eisenbahn schneller in Venedig als heute. Das kann's ja nicht sein!

Bures: Heute fliegen Sie um ein paar Euro ...

Liessmann: Stimmt. Das ist aber kein Grund, den öffentlichen Verkehr so zu organisieren, dass er hinter seine eigenen technischen Möglichkeiten weit zurückfällt. Man hat manchmal den Eindruck - auch durch eine bestimmte Art der Bahnhofsneubauten - als würde der öffentliche Verkehr sich schämen, dass er Verkehr ist. Man baut Bahnhöfe als Shoppingcenter und nicht als Ort des Ankommens und Wegfahrens.

Bures: Die Bahnhöfe stehen auf zentralsten Flächen der Stadt, diese dann mit großen Dienstleistungsangeboten zu verbinden halte ich doch für ein gutes Konzept.

Liessmann: Im 19. Jahrhundert waren Bahnhöfe die Kathedralen der Moderne, Monumente der Mobilität; heute sind es Stätten des Konsums wie alles andere auch.

Standard: Mobilität erzeugt also auch Hässlichkeit?

Liessmann: Denken Sie an die Shoppingcenter an den Stadträndern, die gleichzeitig zur Verödung innerstädtischer Geschäftskultur führten. Oder an die alten Bahnhöfe, die abgerissen oder eher grauenhaft modernisiert wurden.

Bures: Halt! Widerspruch! Der neue Salzburger Hauptbahnhof wird einer der schönsten - Hightech verbunden mit alter Architektur. Aber Sie haben natürlich recht, was die Einkaufszentren in den Speckgürteln betrifft. Daran sieht man ja, dass man im Mobilitätsbereich bei den zentralen Herausforderungen gesamtheitlich denken und arbeiten muss. Derzeit lebt jeder Zweite in Österreich in einem Ballungszentrum, und bis zum Jahr 2050, sagt eine Studie der Statistik Austria, werden es 80 Prozent sein. Ich teile Ihre Meinung, dass es wirkliche Fehlentwicklungen gegeben hat. Es gibt natürlich auch unnötige Mobilität.

Standard: Wo zum Beispiel?

Bures: Im Bereich des Gütertransports können wir noch viel besser sein. Das klas sische Beispiel: Das bayrische Schwein wird nach Italien geführt, nur damit es Prosciutto wird. Aber selbst wenn Mobilität steigt, ist ja die entscheidende Frage, wie ich sie organisiere.

Liessmann: Mobilität kann nicht nur erweitert werden. Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, wo sie ihre Grenzen findet und zurückgenommen werden kann - oder muss.

Standard: Etwa im Flugverkehr? Vor nicht allzu langer Zeit war Fliegen ein Reichenprogramm. Das hat sich rapide geändert - ist das so weiter haltbar?

Bures: Wir sind noch mit dem Interrail-Ticket durch Europa gereist. Es war undenkbar, nach Paris oder Rom zu fliegen. Heute ist es so, dass man ungefähr bei 1000 Kilometer Entfernung das Flugzeug wählt. Es fahren zwar so viele Menschen Eisenbahn wie noch nie, aber wo sind Züge eingestellt worden? Strecken wie Wien-Paris fährt niemand, weil es ein attraktiveres Verkehrsmittel gibt. Aber es spricht sicher nichts dagegen, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen auch die Möglichkeit haben, die Welt kennenzulernen. Es gibt ja den Spruch: Reisen bildet. Meine Mutter hätte sich mit ihren sechs Kindern nie im Leben einen Flug nach Mallorca leisten können.

Liessmann: Natürlich ist es richtig, niemanden auszuschließen. Wir stoßen aber an Kapazitätsgrenzen, wenn das Erdöl spürbar knapp wird. Alternativen wie ein E-Flugzeug sind nicht in Sicht. Es werden Großflugzeuge gebaut, die neue Infrastrukturprobleme erzeugen. Da ist irgendwann der Plafond erreicht.

Bures: Wer das ganze Jahr darauf spart, im Urlaub zum Meer zu fliegen, dem will ich das nicht nehmen. Es sollte jeder für sich entscheiden dürfen.

Standard: Mehr Flüge bedeuten größere Flughäfen, mehr Landepisten ...

Bures: Selbst wenn das Flugverkehrsaufkommen steigt, gibt es Maßnahmen, um die Auswirkungen abzufedern. Manche Strecken werden wohl auch unrentabel: Es wird keine Flüge mehr vom Wiener Flughafen nach Linz geben, wenn man ab 1. Jänner 2013 mit dem Zug in einer Stunde und 15 Minuten mitten im Linzer Stadtzentrum ist.

Liessmann: Es ist schön, wenn wir uns die billigen Urlaubsflüge leisten können. Das heißt aber, dass die folgenden Generationen es nicht mehr können werden. Es gibt wohl ein Menschenrecht auf Erholung, aber kein Menschenrecht auf einen Mallorca-Flug. Wir sind die ressourcenfressendste Zivilisation, die es je gegeben hat, und ich weiß nicht, ob das mit diesem Fetisch Mobilität immer gerechtfertigt werden kann. Dazu kommt noch ein Widerspruch: Die Mobilität des einen kann der Nachteil des anderen sein. Das Pro blem eines Anrainers einer Transitroute ist kaum zu lösen, man kann bauliche Maßnahmen setzen, die dann auch wieder ihren Preis haben. Irgendwann muss aber man fragen: Ist der noch gerechtfertigt? Man muss ja nicht so weit gehen wie der Philosoph Blaise Pascal, der gesagt hat: "Das ganze Unglück der Menschen kommt aus einer einzigen Ursache: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können."

Bures: Da würde aber unser Sozialverhalten verkümmern. Ich bin da eher bei Joseph Roth, der hat gesagt: "Ich könnte jahrelang zu Hause sitzen und zufrieden sein, wenn nur nicht die Bahnhöfe wären." (Peter Mayr, DER STANDARD; 25./26.8.2012)