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Ständig gelangen neue syrische Flüchtlinge in das türkische Reyhanli nahe der Grenze zu ihrer Heimat. Nun sollen bereits über 50.000 Syrer in die Türkei geflohen sein.

Foto: Reuters/Bektas

Gürsel Tekin war sich sicher: Außenminister Ahmet Davutoglu werde bald entlassen, behauptete der führende Politiker der sozialdemokratischen Opposition in der Türkei in einem TV-Interview und berief sich auf "politische Kreise". Einen Namen für den Nachfolger des rastlosen Außenministers hatte Tekin auch schon: Namik Korhan, ein ehemaliger türkischer Botschafter im besetzten Teil Zyperns, werde an Davutoglus Platz rücken.

Die mutige Ansage sorgte einen Tag lang für Schlagzeilen, doch im Kern bleibt sie richtig: Die Türken beobachten mit wachsendem Zweifel den Krieg im Nachbarland Syrien und die laute Rhetorik ihres Außenministers gegen das Regime von Bashar al-Assad.

"Friede daheim"

Jahrzehntelang verfolgte die Türkei einen stillen, neutralen Kurs, war zwar in der Nato, legte sich aber mit keinem Nachbarn an - mit der einen Ausnahme von Zypern und gelegentlicher Spannungen mit Griechenland. Bis Ahmet Davutoglu, der Geschichtsprofessor, 2009 ins Amt kam, konnte sich kaum jemand an einen türkischen Außenminister erinnern. "Friede daheim, Friede in der Welt", lautete eine der Maximen des Republikgründers Kemal Atatürk.

Als Montagabend eine Autobombe in Gaziantep, einer Wirtschaftsmetropole nahe der syrischen Grenze explodierte und neun Menschen tötete, darunter auch ein Kind, war für viele Türken klar: Etwas läuft grundsätzlich falsch. Die Türkei wird in einen Krieg gegen Syrien gezogen und übersieht die eigenen Probleme "daheim" - die Kurdenfrage und den Kampf gegen die PKK.

Türkische Politiker bezichtigten rasch den syrischen Geheimdienst, der PKK bei dem Anschlag geholfen zu haben. "Wenn man eine Analogie ziehen soll, dann gibt es Ähnlichkeiten zwischen der Ermordung von 200 Menschen an einem einzigen Feiertag durch al-Assad und der Mentalität und den Methoden einer Terrororganisation gegenüber der Zivilbevölkerung", sagte Davutoglu. Doch die Schlussfolgerung ließ der Außenminister offen: Muss die syrische Regierung bekämpft werden wie die PKK? Soll das türkische Militär Bombenangriffe gegen Syrien fliegen, wie sie es gegen Guerillagruppen im Südosten der Türkei tut?

Ankara an der Seite Washingtons

Außenpolitische Kommentatoren, regierungsfreundliche wie kritische gleichermaßen, fragen sich seit Wochen, wohin die Reise gehen wird. "Vorbei sind die Tage, als die Regierung von Recep Tayyip Erdogan im Westen Bedenken mit Schritten auslöste, die darauf hindeuteten, sie würde die Türkei weg von ihrer traditionellen westlichen Orientierung in der Außenpolitik hin zu einer islamischen steuern", schrieb Semih Idiz, einer der wichtigen Kolumnisten, in der liberalen Tageszeitung Milliyet.

Mit einem Mal steht Ankara an der Seite Washingtons, ganz anders als im Irakkrieg 2003, als das Parlament den Einmarsch von US-Truppen durch türkisches Gebiet ins Nachbarland nicht erlaubte.

"Wenn die Türkei in einen Krieg in der Region eintritt, wird das Land geteilt", warnte der Vorsitzende der kleinen islamistischen Saadet-Partei, Mustafa Kamalak, und gab damit eine weitverbreitete Sorge wieder.

Die ewigen Zweifel am Zusammenhalt der eigenen Nation, die lange geleugnete Existenz der großen kurdischen Minderheit, so scheint es, holen die Türken nun während einer kritischen Zeit des Umbruchs in der Region ein. (Markus Bernath/DER STANDARD Printausgabe, 23.8.2012)