Hans-Ludwig Kröber: "Breivik hat mich an einen Patienten erinnert, der sich den Penis abgeschnitten hat."

Foto: Institut für Forensische Psychiatrie Berlin

Wenn im Fall Breivik am Freitag das Urteil gesprochen wird, geht es ausnahmsweise nicht um die Schuldfrage. Viel entscheidender wird sein, ob der geständige Mörder von 77 Menschen als zurechnungsfähig eingestuft wird oder nicht. Ein erstes Gutachten hat Breivik paranoide Schizophrenie attestiert, ein zweites hingegen kam zu dem Schluss, dass er bei seinen Taten im Juli 2011 nicht psychisch gestört war. Im Interview mit derStandard.at erklärt Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber, warum Diagnosen in solchen Fällen nicht immer eindeutig ausfallen, was Psychosen von Persönlichkeitsstörungen unterscheidet und wie er Breiviks Grinsen deutet.

derStandard.at: Herr Kröber, egal wie am Freitag im Fall Breivik entschieden wird, es werden Zweifel bleiben. Verantwortlich dafür sind unter anderem zwei unterschiedliche Gutachten. Ist die Psyche Breiviks tatsächlich so komplex?

Kröber: Jein. In diesem Fall spielen mehrere Dinge eine Rolle. Man hat bei diesem Prozess gemerkt, wie medizinische Fragestellungen unter öffentlichen und auch politischen Druck kommen können. Es gab konkret formulierte Wünsche, wie das Gutachten bitteschön auszufallen hat. Und dieser öffentliche Druck presst Positionen hervor, die den unterschiedlichen Interessen entsprechen.

Man muss aber auch bedenken, dass die Diagnose einer psychischen Krankheit nicht so einfach ist. Das betrifft nicht nur Breivik. Es gibt immer wieder Diskussionen, ob ein Patient nun psychosekrank ist oder eine schwere Persönlichkeitsstörung hat. So etwas passiert eigentlich jede Woche.

derStandard.at: Dem ersten Gutachten zufolge hat Breivik paranoide Schizophrenie. Das hat dann wohl nicht gepasst.

Kröber: Es ist relativ offen formuliert worden: Das Gutachten ist nicht qualitativ schlecht, aber das Ergebnis hat nicht konveniert. Dann hat man einfach jemanden gesucht und auch gefunden, der ein neues Gutachten erstellt. Und da, ich kenne das auch von deutschen Strafprozessen, ist die Versuchung groß, sich mit einer entsprechenden Position zu profilieren. Man sollte das nicht tun, ich hoffe, dass ich das nie tun werde, aber Menschen sind nun mal Menschen.

derStandard.at: Wie viel Interpretationsspielraum gibt es denn bei solchen Gutachten?

Kröber: Zum einen geht es darum, wie viele Fakten gesammelt werden können. Beim ersten Gutachten wurde Breiviks Lebensgeschichte relativ ordentlich rekonstruiert. Im zweiten Schritt werden dann diese Fakten beurteilt. In diesem Fall geht es um eine Person, die ein großes Interesse daran hat, als normal zu gelten. Das kommt bei Psychosekranken nicht selten vor, dass sie ihre Krankheit bestreiten. Sie erleben alles in einem für sie normalen Zustand, ihrer Meinung nach agieren die anderen ein bisschen schräg.

Wenn die Person also ein taktisches Interesse hat, sich dementsprechend zu äußern, kann es sehr schwer werden, die Informationen aus ihm herauszubekommen, wie denn sein subjektives Erleben aussieht. Und Psychiatrie befasst sich nun einmal in großem Umfang mit subjektivem Erleben, wenn jemand beispielsweise Stimmen hört oder Wahngedanken hat. All das findet im Inneren statt, und wir erfahren davon nur, wenn sich der Betreffende äußert.

Und dann gibt es noch den Interpretationsspielraum bei der Bewertung von Sachverhalten. Die einen sagen dann, das ist wahnhaft, die anderen meinen, dass das politische Verstiegenheiten sind. Da kann man punktuell schon streiten.

derStandard.at: Es soll ja auch Uneinigkeit geben über die Definition von Wahn. Eine Seite ist der Meinung, dass ein Wahn unabhängig von einer Krankheit auftreten kann. Die andere glaubt, dass ein Wahn immer Symptom einer Krankheit ist. Je nachdem, auf welcher Seite man steht, ist Breivik entweder zurechnungsfähig oder nicht.

Kröber: Sie haben recht, da wird unter Psychiatern gestritten, wenn auch heute weniger als vor 50 Jahren. In Deutschland und Österreich gibt es aber eine hohe Übereinstimmung: Wenn einer einen Wahn hat und aus diesem heraus handelt, dann ist er schuldunfähig. Da spielt es keine Rolle, wie der Wahn zustande gekommen ist.

derStandard.at: Können Sie die im ersten Gutachten attestierte paranoide Schizophrenie kurz beschreiben?

Kröber: Es ist eine relativ häufige Krankheit, etwa ein Prozent der Bevölkerung leidet darunter. Es ist die schwerste psychische Krankheit, mit einem erheblichen erblichen Anteil. Das schafft eine Anfälligkeit, eine Verletzlichkeit, die bei bestimmten psychosozialen Belastungen dazu führt, dass man erkrankt. Der Erkrankungsgipfel ist zeitlich rund um das Abitur anzusetzen, bei Schizophrenen behandelt man also zumeist junge Patienten. Bei manchen kommt das verspätet, im dritten Lebensjahrzehnt. Und dann gibt es noch einige wenige Spätstarter, die erkranken mit 50 oder 60 Jahren.

Die Krankheitsverläufe sind sehr breit gefächert. Von vollständigen Heilungen, das sind etwa zehn bis 20 Prozent, bis zu chronischen Krankheitsverläufen, wo sich Patienten nach der ersten Phase überhaupt nicht mehr erholen, ist alles möglich.

Das primäre Symptom ist, dass sie Wahnvorstellungen entwickeln. Sie entstehen aber erst nach einer gewissen Krankheitsdauer, wenn sie überhaupt entstehen. Relativ häufig sind auch Körpermissempfindungen, sie glauben, dass irgendetwas mit ihnen im Körper geschieht. Oder Beeinflussungsgefühle, dass sich jemand von außen beeinflusst fühlt. Auch Hypochondrien können auftauchen. Breivik etwa hatte permanent Angst, dass er vergiftet wird, deshalb hat er seiner Mutter das Essen zurückgegeben.

derStandard.at: Sind Ihnen auch schon so umstrittene Patienten wie Breivik untergekommen, bei denen eine eindeutige Diagnose nicht möglich ist?

Kröber: Bei dieser Krankheit gibt es Zeiten, in denen es den Patienten hervorragend geht, in denen keine Symptome sichtbar sind. Und dann haben sie wieder sehr stark zu leiden. Dass also andere Behandler zu einem anderen Zeitpunkt andere Symptome erkennen und dann zu einer anderen Diagnose kommen, das passiert relativ häufig.

derStandard.at: Was ist der Unterschied zwischen einer Psychose und einer Persönlichkeitsstörung?

Kröber: Die klassischen Psychiater haben gesagt, dass Persönlichkeitsstörungen abgeschwächte Formen von psychischen Krankheiten sind.

Es gibt mehrere Gruppen der großen Persönlichkeitsstörungen: die Gruppe der schizoiden Persönlichkeitsstörungen, da sind die Menschen distanziert, introversiv, häufig mit verstiegenen Fantasien beschäftigt. Sie haben oft große Schwierigkeiten, soziale Situationen zu verstehen. Aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur haben sie seit ihrer späten Jugend ständig soziale Konflikte.

Dann gibt es noch emotional Instabile, dazu gehören unter anderem die Hysteriker. Das sind jene, die überschießend emotional sind, das aber nicht kontrollieren können.

Und dann gibt es noch die asketischen Leute, die sehr unsicher sind, schwach, anhänglich, die immer Entscheidungen auf andere schieben. Wenn da eine Krankheit sehr ausgeprägt ist, wäre das in Deutschland unter Umständen auch ein Grund, den Patienten in einer Psychiatrie unterzubringen.

derStandard.at: Und wo liegt die Grenze zwischen schuldfähig und schuldunfähig?

Kröber: Die Definition des Deutschen Strafgesetzbuches ist auch für den Laien sehr gut nachvollziehbar: Schuldunfähig ist, wer unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Die Tat wird dann oft in einen wahnhaften Zusammenhang gestellt, im Fall Breivik ging es etwa um die Rettung Norwegens.

derStandard.at: In Norwegen geht es auch stark um die symbolische Bedeutung der Frage, ob er zurechnungsfähig ist oder nicht. Man will nicht, dass das "nur" die Tat eines Wahnsinnigen war.

Kröber: Ja, da hängt ungeheuer viel dran. Wenn er nicht politisch gehandelt hat, dann sind die Opfer keine Märtyrer, keine Sozialdemokraten, die ihr Leben gelassen haben, weil sie für eine bessere Welt gekämpft haben und ihnen deshalb der Feind entgegengekommen ist.

Wenn Breivik einfach nur verrückt ist, dann kann man damit nur schwer leben, kann man nur schwer in das eigene Weltbild einordnen, dass es das sinnlose Unheil gibt.

derStandard.at: Ist es denn nicht einfacher für die Gesellschaft, wenn Breivik schuldunfähig ist? Dann könnte man sagen, dass das nur ein Verrückter war, ein Einzelfall. Das hätte ja etwas Bequemes an sich, weil man sich dann nicht selbst hinterfragen muss.

Kröber: Das glaube ich nicht. Ich denke, dass die norwegische Gesellschaft besser mit der Vorstellung leben kann, dass das ein Agent des Bösen ist, einer von dieser kleinen verschwindenden Minderheit von Feinden unseres Landes. Den machen wir unschädlich, den besiegen wir. Das Irrationale wäre schlechter zu ertragen.

derStandard.at: Wie schätzen Sie Breivik ein?

Kröber: Als Psychiater kann ich mir überhaupt nicht erklären, wie jemand, der dem Prozess beigewohnt und ihn auch selbst erlebt hat, ihn nicht für krank erklären kann.

Ich habe Teile der Gerichtsverhandlung gesehen. Und das hat mir gereicht, um zu sagen, da muss jemand jetzt viele gute Argumente anführen, damit ich ihn nicht zum Psychotiker erkläre. Verrückt ist eigentlich ein veralteter Begriff, aber er trifft es hier sehr exakt.

Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler hat als die drei Kernsymptome der Schizophrenie genannt: Autismus, Affekt- und Assoziationsstörung. Die ersten beiden Symptome sind bei Breivik frappierend ausgeprägt. Er lebt in einer anderen Welt, er ist wirklich verrückt. Er steckt hinter einer Glaswand, wir können ihn sehen, aber nicht erreichen. Und er uns auch nicht.

derStandard.at: Ein oft genanntes Argument, weshalb er zurechnungsfähig sein soll, ist, dass er seine Taten jahrelang sorgfältig geplant hat.

Kröber: Man kann ganze Bücher füllen mit schizophrenen Attentätern, die ihre Taten sehr sorgfältig vorbereitet haben. Ich denke da an den Una-Bomber oder diverse School-Shootings. Was das formale Denken betrifft, hatten sie alle keine Störung, sie haben aber trotzdem gegen einen wahnhaften imaginären Feind gekämpft. Insofern passt das auch bei Breivik.

derStandard.at: Ist Breivik wirklich so intelligent, wie einige sagen? Als Argument wird dann die perfekte Planung seiner Taten angeführt.

Kröber: Ich denke nicht, dass er überdurchschnittlich intelligent ist. All das, was er gemacht hat, ist auch mit einer normalen Intelligenz möglich. Er war einfach im bösen Sinne unvoreingenommen genug, um gründlich zu überlegen, was er anstellen will. Ihm entgegengekommen sind auch die Fehler der Sicherheitskräfte, die ja nun von einer Kommission angesprochen wurden.

Und wenn man gar nicht entkommen will, dann macht das die Planung natürlich auch einfacher.

derStandard.at: Was kann man als Psychiater aus Breiviks irrem Grinsen, das er manchmal vor Gericht aufgesetzt hat, deuten?

Kröber: Solche Verhaltenssymptome beweisen nichts, aber sie passen in ein Puzzle hinein. Mich persönlich hat sein ausdrucksloses Gesicht am meisten fasziniert. Diese Ratlosigkeit im Sinne von "Was treibt ihr da alles?". Er findet keinen Zugang zu unseren Motiven und zu unseren Beweggründen. Er wartet auf den Moment, wo er seine Ansichten auf den Tisch packen kann, aber er hat keinen Zugang zum Geschehen rund um ihn herum.

Das komische Grinsen hatte er ja schon, als er nach seiner Festnahme im Polizeiauto saß. Und das hat mich massiv an meine Patienten erinnert, die etwas sehr Schlimmes gemacht haben und kein Gefühl dafür hatten, was sie gerade angestellt haben. Sie stehen da wie Kinder und sagen: "Guck mal, was ich da gemacht habe." Konkret habe ich mich an einen Patienten erinnert, der sich seinen Penis abgeschnitten hat. Das Blut lief in Strömen, und er grinst mich einfach an.

derStandard.at: Gehen wir einmal davon aus, dass Breivik als schuldunfähig eingestuft wird. Wie geht es dann weiter mit ihm?

Kröber: Soweit ich weiß, bleibt Breivik auch dann im Gefängnis und wird dort dann von einem Psychiater betreut. Ob der ihn aber behandeln kann, ob Breivik überhaupt mitmacht, das ist derzeit offen. Momentan spricht nicht sehr viel dafür. Es gibt ja viele Beispiele von schizophrenen Tätern, die Gespräche und Medikamente ablehnen und darauf beharren, dass sie am falschen Ort sind.

In Deutschland zumindest könnte man ihn nicht zwangsmedikamentieren. Rein theoretisch wäre es ja möglich, dass Breivik sich von seinen Wahnideen distanziert, wenn er regelmäßig antipsychotische Medikamente zu sich nehmen würde. Es wäre möglich, dass er dann kooperiert und man ihn so weit heilen kann, dass er alltagstauglich wird. Die theoretische Chance ist also da, dass er – mit Einbußen – relativ normal werden könnte und man ihn dann entlässt. Unter entsprechenden Bedingungen wie etwa weiterer psychiatrischer Behandlung.

Im Moment ist es aber wahrscheinlicher, dass sehr viel Zeit ins Land gehen muss, bevor sich Breivik überhaupt zu einer Kooperation mit der Psychiatrie bequemen wird.

derStandard.at: Welche Zeitspannen haben Sie diesbezüglich schon erlebt?

Kröber: Ich kenne viele Fälle, in denen Patienten nach vier bis sechs Jahren mit der Kooperation beginnen. Es gibt aber auch manche, bei denen beißt man auch nach 15 Jahren noch auf Beton. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 22.8.2012)