Gegen den schönen Schein: Andreas Schibany.

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Auf die Dauer kann man nicht gegen Regeln verstoßen. Das können weder schöne Reden noch unverbindliche Verträge kaschieren. Europa kann gerettet werden, wenn Wirtschaft, Märkte und die reellen Unterschiede auf dem Kontinent ernst genommen werden.

 

Der Prozess der europäischen Integration war stets von einer großen Erzählung begleitet. In dieser wird die Überwindung der großen Kriege heraufbeschworen, wird von der Grenzenlosigkeit geträumt, die Idee der Solidarität gefeiert oder die europäische Identität betont. Krisen können daher nur - so der Tenor heute - gemeinsam bewältigt werden. Und den Bürgern wird in einer nicht enden wollenden Monotonie erklärt, was sie wollen sollen. Selbst die Mythologie wird strapaziert - stellt Griechenland doch den Beginn Europas und den Hort der Demokratie dar. Als ob der Hinweis, dass der Homo sapiens aus Afrika stammt, für eines der afrikanischen Länder sich jemals als besonders hilfreich erwiesen hätte.

Hatte die europäische Erzählung bis zum Ausbruch der Krise vielleicht noch den Charakter einer integrativen Begleitmusik, so könnte das Festhalten an dieser Vermittlungspolitik sich neuerlich als fatale Fehleinschätzung erweisen. Wenn die einzige Antwort auf die Irrtümer der Integration stets mehr vom Gleichen bedeutet - d. h. mehr Integration -, so überdeckt diese die Fehler der Vergangenheit.

Ein Problem verschwindet aber nicht, wenn man es vergrößert. Wer heute von der europäischen Solidargemeinschaft spricht, setzt sich dem Verdacht aus, "etwas haben zu wollen", wie der Göttinger Völkerrechtler Frank Schorkopf jüngst in der FAZ bemerkte. Man könnte die Karriere des Begriffs "europäische Solidargemeinschaft" fast als Ausdruck der europäischen Krise verstehen.

Denn diese zeigt, dass wir die Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern noch für lange Zeit nicht außer Acht lassen dürfen. Sie werden sich vielleicht sogar noch vergrößern. Aber es war gerade die Vielfalt - und weniger die Einfalt -, welche Europa prägte und von welcher H. M. Enzensberger auf begeisternde wie verstörende Weise in seinen Reportagen Ach Europa! aus den Achtzigerjahren berichtete.

Flexible Wechselkurse

Vieles hat sich seither geändert, viele Unterschiede und Differenzen sind weggefallen, und andere sind entstanden. Die optische Einheitlichkeit ist größer geworden, aber nicht "wegen Brüssel", sondern weil McDonald's oder internationale Hotelketten dafür sorgten. Die wirtschaftlichen, kulturellen oder politischen Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern sitzen so tief, dass man zwischen ihnen flexible Schnittstellen schaffen muss, um sie in schwierigen Situationen ins Gleichgewicht zu bringen - durch flexible Wechselkurse zum Beispiel. Und irgendwann werden sich diese Unterschiede schon auflösen - auch wenn wir es vielleicht nicht mehr erleben.

Aber seit dem Vertrag von Maastricht (1993) scheinen die Regierungen die Geduld verloren zu haben. Vielleicht war es die dynamische Entwicklung der asiatischen Volkswirtschaften oder die Angst vor der Dominanz des Dollars, welche die europäische Politik in diese Überhitzung trieb. Und so entwickelte die Währungsunion ihre eigene Logik.

Ihr Konstruktionsfehler liegt darin, dass die Schaffung einer einheitlichen Währung an den bestehenden wirtschaftlichen (und kulturellen) Unterschieden gar nichts geändert hat. In der Währung drückt sich, ob man das will oder nicht, die Wirtschaftskraft eines Landes aus, und wenn man viele Länder mit einer einheitlichen Fassade versieht, verdeckt man nur die Probleme und verliert die Flexibilität. Ein suboptimaler Währungsraum schafft erst die Voraussetzung für die Finanzmärkte, diese enorme Kraft zu entwickeln.

War die Einführung einer gemeinsamen Währung einmal beschlossen, waren die darauffolgenden Integrationsprozesse rein politischer Natur. Denn die Vielfalt der europäischen Ideen überdeckt leicht die Untiefen und Differenzen der Mitgliedsländer. Da breitete Europa dann prächtig seine Flügel aus ohne die entsprechende Konstruktion, welche die Flügel bewegen soll. Und man sprach dann von einer "europäischen Einheit" und glaubte, den Vereinigten Staaten, China oder Indien in gleicher Formation gegenüberstehen zu können.

Nun sind politische Prozesse auf europäischer Ebene von Höflichkeit, von gemeinsamen Ideen und Willensbekundungen geprägt. Das widerspiegelt sich auch in den europäischen Verträgen. Eine inhaltliche Analyse zeigt jedoch, dass außer allgemeinen Leerformeln darin nichts steht, in welche politische Richtung Europa sich bewegen soll. Berücksichtigt man auch die unzähligen Unterschiede zu den politischen Auffassungen zu fast jeder einzelnen Frage, wäre das auch unmöglich. Und so folgt man lieber der alten Regel: Wenn man sich über Inhalte nicht einigen kann, muss man wenigstens das Verfahren festlegen, das eine solche Einigung vielleicht ermöglicht.

Auch deshalb hat man den Vertrag von Lissabon "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" genannt. Die Europäische Union ist so zu einem "Staatenverbund sui generis" (Roman Herzog) geworden, ein dichtes Netzwerk aus bilateralen und multilateralen völkerrechtlichen Verträgen, Beschlüssen des Ministerrates, Kommissionsentscheidungen, Richtlinien, Verordnungen etc.

Schönwetterökonomie

Diese Verträge regeln alles und jedes, aber wenn es um die Frage geht, was im Falle eines Vertragsbruchs geschehen soll, bleiben die Texte dunkel. Einzig der Europäische Gerichtshof kann feststellen, dass ein Mitgliedsstaat sich nicht vertragsgerecht verhält, und sogar eine Geldstrafe verhängen - aber vollstrecken kann er sie nicht.

Daher sollten die europäischen Verträge nicht nur als Ausdruck einer politischen Vision verstanden werden, sondern als Grundgesetz des sozialen Lebens, als faire Ausgewogenheit von Geben und Nehmen.

Reine Verpflichtungserklärungen, die sich auf das Papier beschränken, auf dem sie vorgelegt werden, können diesen Zweck nicht erfüllen. Ein Staat, der einen europäischen Vertrag bricht, muss Sanktionen ertragen. Und wenn die Zusammenarbeit insgesamt unzumutbar wird, muss man auch einzelne Mitgliedsländer kündigen können. All das sind Elemente der Gerechtigkeit, gegen die niemand auf Dauer verstoßen kann. Die Verträge müssen ein Stück von der politischen Konstruktion wegrücken, damit wieder das in den Vordergrund rückt, welches auf politischer Ebene so verpönt und den Schönwetterökonomen verhasst ist: der Markt und das Geld.

Vielleicht gelingt es, die europäische Erzählung lebendig zu erhalten, die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, eine unüblich lange Zeit des Friedens in Europa zu schaffen. Sie sollte aber nicht den europäischen Bürgern erklären, alles zu akzeptieren, nur damit der Schein gewahrt bleibt. Denn niemand will das europäische Projekt als Farce der Geschichte enden lassen.

Andreas Schibany ist Wirtschaftswissenschafter und arbeitet am Zentrum für Wirtschafts- und Innovationsforschung der Joanneum Research in Wien. (Andreas Schibany, DER STANDARD, 22.8.2012)