Wenn Bauern Mitte des 19. Jahrhunderts zu Wohlstand kamen, wollten sie ihren neuen Reichtum auch für die Umgebung sichtbar machen. So entstanden aus den ehemaligen "Haufensiedlungen" mit einzelnen Gebäuden für unterschiedliche Nutzungen allmählich die großen, nach außen hin abgeschirmten Vierkanthöfe: Rund 13.000 von ihnen stehen in Ober- und Niederösterreich. Entstanden sind die meisten mit der Fertigstellung der Westbahn, als es erstmals eine durchgehende Bahnverbindung zwischen Wien und Salzburg gab.

"Mit dem Zug konnten die Bauern der angrenzenden Regionen die Erträge ihrer Höfe schnell und günstig auf die Märkte der großen Städte transportieren und sich damit einen gewissen Wohlstand erwirtschaften", sagt Martin Heintel vom Institut für Geografie und Regionalforschung der Universität Wien.

Im Rahmen einer EU-Pilotstudie zur Förderung des ländlichen Raums hat er gemeinsam mit seinen Kollegen Norbert Weixlbaumer und Werner Dietl sowie Studierenden sämtliche 207 Vierkanter der Region Haag nach wissenschaftlichen Methoden erfasst. Aufgrund ihrer großen regionalen Bedeutung wurde die Forschungsarbeit nicht nur von Bund, EU und Uni Wien, sondern auch vom Tourismusverband Moststraße und der Stadtgemeinde Haag finanziell unterstützt. "Die Menschen dieser Region identifizieren sich mit diesen Höfen", sagt Heintel. "Üblicherweise befinden sie sich über viele Generationen im Familienbesitz, wodurch eine starke emotionale Bindung entsteht".

Die Vierkanter waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts die ide ale Bewirtschaftungsform, meint Martin Heintel. Der geschützte Hof, der angrenzende Stall und Schuppen sowie der Wohnbereich ergeben ein "geschlossenes, ökonomisches Ganzes".

Weltoffene Höfe

Architektonische Vorbilder waren die städtischen Bürgerhäuser jener Zeit und die herrschaftlichen Stifte der Region. Trotz ihrer nach außen hin abgeschotteten Form zeugen die Vierkanthöfe in ihrer Gestaltung auch von einer gewissen Weltoffenheit. Denn durch die neue Bahnverbindung kamen vermehrt Wanderarbeiter in die prosperierende Region, die nicht nur bei der Ernte mitgeholfen haben, sondern auch beim Aufbau der Höfe. Viele dieser Arbeitsmigranten kamen aus Italien. Sie brachten mit dem Ziegelhandwerk auch ästhetische Ideen aus ihrer Heimat ins Mostviertel mit, die sich bei manchen Vierkantern in Form typisch italienischer Fassadenelemente niederschlugen.

Fast ein ganzes Jahrhundert blieb der Vierkanthof die typische Wirtschaftsform des Mostviertels. Sein allmählicher Abstieg begann erst mit der Agrarreform in den 1950er-Jahren. Damals setzte sich neben der Nutzung von Kunstdünger die Technisierung in der Landwirtschaft immer stärker durch: Wer es sich leisten konnte, kaufte einen Traktor, einen Mähdrescher und andere zeit- und arbeitskraftsparende Geräte. Außerdem wurde die Verarbeitung der Produkte verstärkt in spezialisierte Betriebe der Nahrungsmittelindustrie ausgelagert.

Zu kleine Tore

Logische Konsequenz waren strukturelle Veränderungen wie größere Anbauflächen und Produktionsmengen, eine zunehmend bessere Infrastruktur und nicht zuletzt der Ersatz der zahlreichen bis dahin nötigen bäuerlichen Hilfskräfte durch Maschinen. "Lauter Faktoren, an die der in sich geschlossene Vierkanthof nicht optimal angepasst war", erläutert Martin Heintel. Zum Beispiel waren einige der Hoftore für die neuen Maschinen viel zu klein.

Sind die Vierkanter also nur mehr eine sentimentale Tourismusattraktion? Norbert Weixl baumer, ein weiterer Wissenschafter im Forschungsteam, verneint: "Die Vierkanter sind nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Region."

Im Wesentlichen wurden vier aktuelle Nutzungsvarianten identifiziert: Spezialisierung, Umwidmung, Beharren auf der traditionellen Wirtschaftsform sowie Aufgabe des Hofes. "In den ‚beharrenden‘ Vierkantern leben heute meist ältere Leute, die versuchen, das Bestehende zu erhalten", sagt Weixlbaumer. Ein arbeitsintensives Projekt angesichts der mehr als 100 Fenster und der riesigen Dach- und Wandflächen eines großen Vierkanthofes, die laufend instand gehalten werden müssen. Dennoch werden nur wenige Höfe aufgegeben, wie aus der Studie hervorgeht.

Als ökonomisch am erfolgreichsten hat sich die landwirtschaftliche Spezialisierung der Vierkanthofbetreiber erwiesen. Viele von ihnen haben heute eine Nische für sich gefunden - sei es im Biolandbau, in der Mostproduktion oder auch in der Schnapsherstellung im großen Stil. Aber auch Nutzungen abseits der Landwirtschaft haben sich bewährt: So sind aus etlichen Bauernhöfen mittlerweile gutgehende Pensionen oder Ferienwohnungen geworden.

Interesse am Kulturgut

Während ihrer Untersuchungen vor Ort waren die Wissenschafter vor allem von der Kooperationsbereitschaft der Menschen beeindruckt: "Wir wurden mit offenen Armen empfangen", schwärmt Martin Heintel. "Das zeigt, wie wichtig den Menschen dieses Kulturgut ist." (Doris Griesser/DER STANDARD, 22. 8. 2012)