Zwei Mal war Leszek Balcerowicz Polens Finanzminister: 1989 führte er soziale Marktwirtschaft ein, ab 1997 zum EU-Beitritt.

Foto: Thomas Mayer

Der polnische Ökonom Leszek Balcerowicz hält es für einen fatalen Irrtum, Probleme der Eurokrisenländer wie Italien oder Griechenland mit Euroanleihen oder EZB-Stützen lösen zu wollen. Europa sei besser als sein Ruf, erklärte er Thomas Mayer beim Forum Alpbach.

STANDARD: Wie sehen sie die Perspektiven für Europa, nach vier Jahren der tiefen Krise? 

Balcerowicz: Ich würde nicht sagen, dass Europa in einer Katastrophe steckt. Wir sollten uns durch die laufenden Probleme nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Die Krise betrifft einige Staaten. Aber langfristig muss man sehen, dass Europa sich langsamer entwickeln wird als die USA, und natürlich auch langsamer als China oder etwa Indien.

STANDARD: Das klingt nicht sehr gut.

Balcerowicz: Aber es ist auch natürlich, ergibt sich aus bestimmten Voraussetzungen. Die Bevölkerungsentwicklung etwa ist eine andere, in den USA wird die Bevölkerung zunehmen.

STANDARD: Wie soll es also in Europa zu wirtschaftlichem Wachstum kommen, ihrer Ansicht nach.

Balcerowicz: Auf jeden Fall nicht durch sogenannte europäische Lösungen, das ist eine Illusion. Es wird abhängen von den Reformen in Ländern wie Spanien, Italien, Griechenland oder Irland. Die Europäer können deren Probleme nicht lösen.

STANDARD: Sie gelten da als klassischer Wirtschaftsliberaler.

Balcerowicz: Nein, das ist keine ideologische Frage, Moment. Es ist das eine Sache der Einsicht. Wenn sie sich anschauen, welche Reformen Italien zum Beispiel braucht, dann werden sie erkennen, dass Europa da nur wenig helfen kann. Das gilt für die öffentlichen Finanzen ebenso wie für den Arbeitsmarkt, das kann nicht durch eine europäische Lösung ersetzt werden. Ich sehe eine Asymmetrie zwischen dem, was in den Massenmedien behauptet wird, oder seitens vieler Politiker, die von europäischen Lösungen sprechen, und den Tatsachen, was möglich ist.

STANDARD: Was ist denn nötig?

Balcerowicz: Es müssen die oft zitierten Hausaufgaben gemacht werden. Da gibt es auch große Unterschiede zwischen den Eurokrisenländern. Irland muss andere Reformen machen als Griechenland. Aber wenn die Reformen effizient gemacht werden, wird sich auch der gewünschte Effekt einstellen.

STANDARD: Einwand, es scheint im Moment modern zu sein, Länder-Bashing zu betreiben, wenn etwa die Deutschen sich über die untätigen Griechen mokieren. Dabei galt Deutschland noch vor ein paar Jahren als Patient, ohne Wachstum.

Balcerowicz: Das bestätigt meine Analyse, macht meine Argumente stärker. Deutschland hat gezeigt, dass Reformen wirken. Ohne diese, vom Sozialdemokraten Schröder umgesetzt, wäre Deutschland nicht in dieser Form. Aber auch da: Man sollte nicht den Fehler machen zu glauben, Deutschland könne für alle Fehler der Partner einstehen. Es hat Gesamtschulden von 80 Prozent des BIP, die implizite Staatsschuld inklusive der Pensionsversprechen ist höher als in Italien. Deutschland ist nicht imstande, die Verpflichtungen von anderen zu übernehmen.

STANDARD: Warum sind sie also dennoch nicht so pessimistisch in Bezug auf die Perspektive Europas?

Balcerowicz: Erstens ist Europa bereits reich. Es gibt nicht das Armutsproblem wie in Indien oder China. Wenn ein reiches Land sich langsamer entwickelt, ist das also kein Drama, man muss nur die richtige Strategie finden. Ein wichtiges Problem ist die Beschäftigung, die hängt stark vom Wachstum ab, aber auch vom Ausbildungssystem. Da muss man viel machen. Es gibt Ausbildungsfehlentwicklungen.

STANDARD: Sie meinen, viele Leute haben die falschen Ausbildungen, den falschen Beruf?

Balcerowicz: Ja, man kann generell sagen, es gibt in Europa zu viele Human- und Sozialwissenschaftler, zu wenige Mathematiker, Naturwissenschaftler oder Techniker. Das ist ein genereller Trend in den meisten europäischen Ländern. Es gibt zu viele Pädagogen und Soziologen.

STANDARD: Wie wollen sie das ändern? Wir leben in einer freien Gesellschaft, jeder kann werden, was er will.

Balcerowicz: Durch Überzeugung, zum Beispiel. Man muss mehr Information geben, um die freien Entscheidungen zu beeinflussen, zu überzeugen. Das ist nicht nur Aufgabe des Staates, auch der Zivilgesellschaft.

STANDARD: Das dauert ja Generationen, haben wir so lange Zeit?

Balcerowicz: Die Ausbildungssysteme sind nicht angepasst, anders als in den USA. Unsere Universitäten folgen zum Teil noch den Mustern des Mittelalters.

STANDARD: Unis sind eben keine Ausbildungsstätten, oder sieht das der Wirtschaftsprofessor so?

Balcerowicz: Trotzdem, es stellt sich die Frage der Anpassung an die neue moderne Zeit. US-Universitäten waren ursprünglich nach deutschem Muster gestaltet. Wir müssen die Universität updaten. Europa ist zu langsam, es ist das auch nicht nur eine Frage von mehr Staat oder mehr privat, es gibt auch die Zivilgesellschaft, die eine Rolle spielen muss.

STANDARD: Als erster Finanzminister des freien Polen haben sie ab 1989 die freie Marktwirtschaft eingeführt, sie gelten als strikter Gegner staatlicher Regelung. Nun ist diese Haltung im Zuge der Finanzkrise heftig in die Kritik geraten, die Liberalisierung wird verantwortlich gemacht für Gier, Absturz und Krise.

Balcerowicz: Das ist zwar sehr populär, aber falsch, empirisch falsch. In der Finanzwirtschaft hat nicht der freie Markt versagt, es gab viele Regulierungen, aber genau die haben versagt. Es war das ein Versagen der staatlichen Aufsicht und der Zentralbanken. Es haben Banken große Kredite an Staaten gegeben, und das wurde als Nullrisiko eingestuft.

STANDARD: Und das war ein Irrtum?

Balcerowicz: Von Anfang an. Der Fehler in den USA war, dass es viel zu niedrige Zinsen für Kredite gab, mit denen die Leute Immobilien finanzierten. Das war politisch gewünscht. Diese einfachen Sichtweisen der Kritik an der Finanzwirtschaft sind populär, aber deswegen nicht richtig. Zu sagen, ah, es gibt eine Finanzkrise, also muss die Ursache in der Finanzwirtschaft liegen, das ist ein primitiver Fehler.

STANDARD: Wie kann man die Probleme Europas also lösen?

Balcerowicz: Es sind weniger die technischen Probleme, die es zu lösen gibt. Es gab ja die Aufsichten, die waren auch gut ausgestattet, aber es hat nicht funktioniert.

STANDARD: Zur Lage der jungen Generation. Die ist ja gut ausgebildet, aber kriegt schwer Jobs.

Balcerowicz: Man muss aufpassen vor Generalisierungen. Es gibt Länder wie Deutschland, Finnland, die baltischen Staaten, Polen, auch Bulgarien, da geht es relativ gut. Und es gibt Staaten wie Spanien, Griechenland, Italien, da gibt es Probleme. Wenn man die Unterschiede sieht, erkennt man auch, wo die Lösungen liegen. Sie müssen von den Ländern gefunden werden. Man soll nicht ständig negativ über ganz Europa sprechen, das trifft nicht die Realität.

STANDARD: Sollen die jungen Spanier oder Griechen einfach nach Norden gehen um Arbeit zu finden?

Balcerowicz: Auch. Aber ihre Länder müssen vor allem die Bedingungen schaffen, dass es zur Schaffung von Arbeit kommt.

STANDARD: Warum wird in Europa nicht mehr über die erfolgreichen EU-Staaten wie Polen oder die Balten gesprochen.

Balcerowicz: Für die Medien sind schlechte Nachrichten die guten Nachrichten. Erfolge sind nicht so attraktiv wie Probleme, außer im Sport vielleicht. Es ist dann unausweichlich, dass die Popularität des Euro sinkt. Dennoch gilt, wie man in Irland oder in Portugal bereits sieht: Wenn Reformen durchgeführt werden, kommt es zu einer Verbesserung, das ist die einzig mögliche Antwort auf die Krise.

STANDARD: Müssen die Euro-Südländer eine ähnliche Rosskur durchführen wie Estland das vor drei Jahren gemacht hat?

Balcerowicz: Noch dramatischer war es in Litauen, es passiert aber gerade auch in Irland.

STANDARD: Wo die Wirtschaft viele Jahre überhitzt gelaufen ist vor dem Absturz.

Balcerowicz: Es gab zwei Boomländer in der Eurozone. In Griechenland ist in zehn Jahren der staatliche Sektor, die Verwaltung extrem gewachsen, und in Irland war es der Immobiliensektor, die Hauskredite. Das war die falsche Politik, es gab zu billiges Geld von den Zentralbanken. Dann kommt der Absturz, die Nachfrage fällt, es geht abwärts.

STANDARD: Wie lange dauert die Bewältigung der Krise?

Balcerowicz: Das ist die spannendste Frage, dazu gibt es wenige Untersuchungen. Es könnte eine langfristige Stagnation geben, wie in Japan. Andere sagen, das Wachstum könnte rascher zurückkommen. In Japan gab es eine überalterte Gesellschaft, das würde auch auf Europa zutreffen. Und es gab zu lange zu niedrige Zinsen, das hat die Restrukturierung gebremst. Deshalb bin ich auch gegen die derzeitige Politik der Zentralbank. Das wird auf lange Sicht mehr Probleme schaffen als Lösungen bringen. Es wurde schon viel Geld geschaffen, aber der Effekt hielt nur ein paar Tage oder Wochen an. Die Anreize für Reformen wurden schwächer. Politiker haben das gerne.

STANDARD: Sie waren ja Politiker, zwei Mal Finanzminister, Vizepremier, und später auch Notenbankchef.

Balcerowicz: Wir haben damals die Reformen beschleunigt. Man kann Wahlen schließlich auch verlieren, wenn man die wirtschaftlichen Probleme nicht benennt, Reformen nicht durchführt. Ich sage ja nicht, dass Reformen ohne Risiko sind, aber ohne sie gibt es keine Lösung. Es gibt im Moment zu viel Gerede von europäischen Lösungen, ich glaube nicht daran. Ohne eine stärkere europäische Identität, die stärker Einbindung der Bevölkerung, wird das nicht funktionieren. Und ich beschäftige mich nicht mit Utopien, das hat der Sozialismus mir gezeigt. Utopien sind gefährlich.

STANDARD: Aber die Annäherung, die zunehmende Integration, wenn sie so wollen, Solidarität, die Schaffung einer europäischen Identität, das ist doch wesentlicher Teil der Gemeinschaft. 

Balcerowicz: Ich würde mir auch eine stärkere europäische Identität wünschen. Aber man kann das nicht künstlich beschleunigen. Wie viele Fälle von vereinigter Identität gibt es? Es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika, und es gibt Indien, das von den Briten gebildet wurde und kein einheitlicher Staat war. Man sollte die Risiken nicht vernachlässigen, wenn man das versucht. Man kann das nur langsam machen, wenn man das erzwingt, kommt es zu gegensätzlichen Effekten (Thomas Mayer, DER STANDARD, 21.8.2012)