Freigegebenes Foto vom Start der Europatournee: Lady Gaga als Haute-Couture-Burgfräulein, umringt von Tanzmäusen beiderlei Geschlechts.

 

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Wien - Die Eröffnung war nicht das Einzige, was einen etwas ratlos machte. Aus der Kulisse einer Burg kam eine Karawane von Leutchen, die sich um ein Pferd scharte. Kein echter Gaul, das wäre nicht einmal einem Wiener Fiakerpferd zuzumuten, da vor 12.000 kreischenden Menschen und zu lauter Musik eine Runde zu drehen.

Nein, es war ein achtbeiniges Pferd, das da bar jeder natürlichen Eleganz im Kreis ging - und wieder verschwand. Was genau das sollte - gute Frage. Danach, die Musik donnerte bereits seit Minuten, obwohl noch keine Band zu sehen war, betrat Lady Gaga, der Star des Abends, die Bühne. In einem Kleid, das Haute-Couture-ferne Menschen Alienfummel nennen würden. Eine Minute später wurde auf einem Tisch inmitten der Bühne Oralsex angedeutet. Wahrscheinlich ein Plädoyer für oder gegen sexy.

Nachdem man das zur Kenntnis genommen hatte, ging's richtig los. Die Kulisse öffnete sich und gab ein Inneres zu erkennen, das wie ein schlecht gepflegtes Gebiss wirkte. In dessen Löchern standen die Musiker. Aber jetzt kommt's: Durch ein Tor quetschte sich etwas, das sich als riesige Vagina entpuppte, jene des Burgfräuleins Gaga. Sie gebar sich selbst - "I was born this way"-, um zu verkünden: "Vienna, you are the future!"

Es folgte die Aufforderung, Party zu machen. Ach so, darum geht's, endlich Klartext. Warum immer so umständlich? Dann begann eine Art Musical ohne Handlung, das jeder fotografieren durfte, nur die Presse nicht (siehe Text rechts).

Die 26-jährige New Yorkerin Stefani Joanne Angelina Germanotta unterhielt sich jovial mit dem Publikum und nahm von diesem demütig Geschenke entgegen, dazu gab es zugespielte Botschaften. Diese ließen Frau Gaga als eine Art Esoterik-Alien erscheinen - in Schuhen mit sehr hohen Absätzen: "Es gibt mich, weil ihr mich geschaffen habt", verkündete sie. Die österreichische Regierung sei daran irgendwie mitbeteiligt - typisch! -, und sie, Gaga, wolle die Welt mit Kunst und Mode und Dingsbums heilen und retten, oder so.

Des Pudels Kern dieser Befreiungsrhetorik ist, dass wir alle Freaks und Aliens sind. Und das sei okay so. Lady Gaga ist die Predigerin der Individualität, eine Fürsprecherin der repressionslosen Selbstverwirklichung unter den Vorzeichen gegenseitiger Toleranz. Man darf ruhig einen Vogel haben, man muss ihn nur lieb pflegen. "Wir haben alle dieselben Träume, dieselben Hoffnungen, dieselbe Zukunft!" Stimmt zwar nicht, aber es geht rein.

In Zeiten, in denen die Zuschreibung "Ikone" billiger vergeben wird als Gratiszeitungen, gilt Gaga längst als Mode-, Schwulen- und Pop-Ikone, die seit ihrem Debüt The Fame aus dem Jahr 2008 zum globalen Popstar aufgestiegen ist. Was war noch? Ach ja, Musik. Lady Gaga gab reichlich und ärmlich zugleich.

Gut zwei Dutzend Lieder aus dem Fach der Hardrock-Disco, deren Titel das von ihr beackerte Terrain deutlich illustrieren: Government Hooker, Black Jesus, Bloody Mary, Bad Kids, Fashion of his Love, Scheiße (sic!), dazu Hits wie Poker Face oder Bad Ro mance. Umgesetzt wurden diese Lieder von der Band aus den Zahnlücken sowie von einer stattlichen Horde von Tanzmäusen beiderlei Geschlechts, die ihrem Burgfräulein beim Märchenerzählen beistanden.

Ein heterogenes Publikum von zehn bis verdächtig alt hatte seinen Spaß. Gaga erwies sich einmal mehr als sympathische Enter tainerin, die vor wirklich keiner Blödheit zurückschreckt. Der diesbezügliche Höhepunkt war ihr Auftritt während des Stücks Heavy Metal Lover, das sie als integrierter Teil eines Motorrads gab, während dieses über den Laufsteg der Wiener Stadthalle tuckerte. Lustig. Auch noch eine Spaß-Ikone, die Gaga! (Karl Fluch/DER STANDARD, 20. 8. 2012)