"Derzeit fühlt sich jeder gezwungen, jene Einrichtung zu verteidigen, für die er arbeitet", sagt der Leiter der Pädagogischen Hochschule in Niederösterreich, Erwin Rauscher.

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Der Leiter der Pädagogischen Hochschule Erwin Rauscher kritisiert das Expertentum in der Bildungsdebatte: "Ein Experte ist sehr häufig einer, der über seine Kompetenz nicht nachdenkt, weil er sich in ihr sonnt", so Rauscher im Gespräch mit derStandard.at. In seinem neuen Buch fordert Rauscher eine Versachlichung der Bildungsdebatte und will dem "kollektiven Raunzen" entgegnen. In der Debatte um die neue Lehrerausbildung schlägt Rauscher eine übergeordnete Einrichtung für die Lehrerausbildung, eine Art Universität für Lehrberufe, vor. "Derzeit fühlt sich jeder gezwungen, jene Einrichtung zu verteidigen, für die er arbeitet", sagt Rauscher.

derStandard.at: Ihr Buch richtet sich auch gegen das "kollektive Raunzen". Schule solle "wieder ein mitverantworteter Lebenslernraum" sein. Ist diese Mitverantwortung in der Schule abhandengekommen?

Erwin Rauscher: In der Schule selber nicht so sehr. Aber ich bin bekümmert und es erschreckt mich, wenn die sogenannten, von den Medien gemachten Experten, die sehr oft der Schule selbst fernstehen, in pauschale Kritik über die Schule verfallen. Sie kritisieren eine Schule von gestern, auch weil sie die Schule von heute nicht mehr aus erster Hand kennen.

derStandard.at: Meinen Sie da nur die Bildungsexperten, die sich im Zuge des Bildungsvolksbegehrens engagiert haben?

Erwin Rauscher: Aufgetreten sind manche auch schon vor dem Bildungsvolksbegehren. Manche inszenieren und "lieben" sich selbst, sie wollen die Schulwelt belehren. Ich fühle mich als Insider, nicht als Experte. Lehrer-Profession ist, den Lebensraum Schule zu "lieben" und die jungen Menschen zu lehren. Ein Experte ist sehr häufig einer, der über seine Kompetenz nicht nachdenkt, weil er sich in ihr sonnt. Solche Experten üben Macht aus. Wir Pädagogen setzen Macht ein: Wer Macht ausübt, will etwas beherrschen, wer Macht einsetzt, will etwas bewirken.

derStandard.at: Reden wir zu viel über die Schule und handeln zu wenig?

Erwin Rauscher: Wir handeln nicht zu wenig, aber wir handeln vielleicht nicht so, wie es sein sollte. Aber es bekümmert mich, wenn diejenigen, welche in der Schule und für die Schule arbeiten, die Verantwortung übernehmen und keine Presse bekommen. Andere, die schon lange von der Schule weg sind, werden immer wieder als Experten geholt. Die "Niki Laudas der Schule" haben aber schon längst mit dem Autofahren aufgehört. Ich kritisiere, dass man nicht die eigentlich Betroffenen befragt und an der öffentlichen Diskussion beteiligt.

derStandard.at: "Bessermachen statt Schlechtreden", heißt es in im Untertitel ihres Buches. Ist die Schule in Österreich besser als ihr Ruf?

Erwin Rauscher: Die Lehrer sind viel besser als ihr Ruf. Häufig wird eine Schule kritisiert, wie sie einmal war, aber nicht mehr ist. Nehmen Sie die PISA-Studie: Das Vertrauen in die Qualität der Schule wurde durch PISA stark gestört. Vielleicht waren die Schulen früher wirklich einmal schlechter als die veröffentlichte Meinung über sie. Heute ist es längst umgekehrt. Die Schulen sind zweifellos viel besser geworden, als man sie macht, auch angesichts der berechtigten Kritik, die es vielerorts gegeben hat.

derStandard.at: Was wären zum Beispiel Kritikpunkte, die nicht gerechtfertigt sind?

Erwin Rauscher: Androsch kritisiert zum Beispiel den Reformstillstand, an dem nur die Lehrer schuld seien. Wir haben eine sehr heterogen gewordene Gesellschaft und deshalb stark veränderte Aufgaben in der Schule, rund um Migration, Integration und Gewaltprävention. Aber der Pythagoreische Lehrsatz ist derselbe wie vor 50 oder vor 2500 Jahren. Er ist gleich schwer zu begreifen, aber in einer anderen "Kultur des Unterrichtens". Diejenigen, die das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, aber ständig besser wissen, wie man alles richtig macht, sollen nicht die Einzigen bleiben, die man anhört. Dagegen bin ich: Wir alle sind Schule und tragen Verantwortung. Ich glaube an die Schule als einen Ort der Bildung für jene Menschen, auf die wir hoffen.

derStandard.at: Derzeit wird diskutiert, ob die Lehrerausbildung an den Pädagogischen Hochschulen oder an den Universitäten angesiedelt sein soll. Wie sehen sie das?

Erwin Rauscher: Diese Frage "Wo" hat eine Konkurrenzsituation geschaffen, die der Sache nicht dient. Pädagogische Hochschule und Universität brauchen einen Wettbewerb der Vielgestaltigkeit, die Frage nach neuer Lehrerbildung soll sich auf das "Wie" richten. Wir müssen eine neue und bestmögliche Lehrerbildung gemeinsam entwickeln. Derzeit fühlt sich jeder gezwungen, jene Einrichtung zu verteidigen, für die er arbeitet. Ähnlich wie Gehrer gegenüber einem SPÖ-geführten Wissenschaftsministerium argumentiert hat, spricht nun Schmied gegenüber einem ÖVP-Wissenschaftsministerium. Die Argumente sind vergleichbar, nur die politischen Machtstrukturen sind umgekehrt.

derStandard.at: Soll die Lehrerausbildung gemeinsam erfolgen?

Erwin Rauscher: Ich glaube, darüber gibt es einen politischen Konsens. Ich halte es für einen klugen Paradigmenwechsel, eher weg von der jahrzehntelang polarisierenden Diskussion über die Sekundarstufe I. Vielleicht können wir mit qualitativ hochwertiger neuer Lehrerbildung diese alte Diskussion überwinden.

derStandard.at: Sie sagen in Ihrem Buch, dass die Lehrerausbildung auch von einer Hochschule oder Universität für pädagogische Berufe entwickelt werden soll?

Erwin Rauscher: Ein Beispiel vorweg: Wenn heute jemand Jus studiert, kann er danach eine Vielzahl von Berufen ergreifen. In der Pädagogik ist das nicht so. Ein Lehramtsstudent studiert heute die Fächer oder die Schulform, in der er später arbeiten möchte. Wir alle aber unterrichten Schüler. Wie für Mediziner, Juristen, Wirtschafter, Techniker, Musiker, Künstler usw. sollte es auch eine eigene universitäre Einrichtung für pädagogische Berufe geben. Lehramtsstudenten dürfen nicht "Beiwagerln" sein.

derStandard.at: Was schlagen Sie vor?

Um darüber nachzudenken, ob man nicht eine solche schafft, muss man nicht die bestehenden Strukturen zerstören. Aber es braucht ein eigenständiges, strukturelles Dach, unter dem alle Lehramtsstudenten Platz finden. Dorthin soll die Entwicklung von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen gemeinsam führen.

Wir sollen unser Bewusstsein für ein solches Pädagogikstudium stärken. Im Zuge eines neuen Pädagogik-Curriculums können individuelle Studienpfade angeboten werden, natürlich auch an den bestehenden Standorten. Die kleine Pädagogische Hochschule Niederösterreich kann einen Physiklehrer qualitativ nicht so ausbilden wie die Technische Universität Wien. Wir brauchen ein schlankes strukturelles Gitter, um die bestehenden personellen und lokalen Ressourcen optimal und optimiert zu nutzen. In Zeiten der EDV ist so etwas schaffbar.

derStandard.at: Zu einem anderen Thema: Sie treten für die Beibehaltung einer zweigliedrigen Sekundarstufe I ein, aber mit einer höheren Durchlässigkeit.

Erwin Rauscher: Es geht nicht nur um die Durchlässigkeit, die ist zum Glück heute schon sehr hoch. Was ich aber kritisiere und wovon die heutige Diskussion überfrachtet ist, ist das "Höhere". Es gibt die höheren Schulen - Gymnasien, HAKs, HTLs. Aber was ist höher? Wenn das eine höher ist, muss das andere niedriger, also schlechter sein.

Heute schon gibt es viele Eltern, die wollen, dass ihre Kinder in die "höheren" Schulen gehen. Sie alle würden es als Rückschritt empfinden, wenn ihre Kinder in eine Gesamtschule müssen, selbst wenn sich dadurch inhaltlich nichts ändern würde. Deswegen werden es Gymnasialgegner zunehmend schwerer haben. Eines der Hauptübel ist nicht so sehr die Zweigliedrigkeit, sondern das Prinzip des "Höheren". Warum soll auch ein Maturant für die Gesellschaft mehr wert sein als ein Lehrling?

derStandard.at: Was schlagen Sie stattdessen vor?

Erwin Rauscher: Mein Modell ist: Zwei Schienen für einen Weg; je eine Schiene mit einer realen und einer gymnasialen Ausrichtung. Die eine soll praktischer, berufsvorbereitender sein, die andere eher in Richtung Studium vorbereiten. Aber nicht die eine oder andere ist besser oder schlechter, wohl aber unterschiedlich. Kinder mit speziellem Förderbedarf und jene mit Migrationshintergrund sollen selbstverständlich in beide Schulformen gehen können. Es soll auch kein Abschieben von schwachen Schülern geben: Gleichwertig, gleichberechtigt, aber deshalb nicht nur gleich.

derStandard.at: Es hängt also nicht an der Struktur?

Erwin Rauscher: Es liegt an der Wertigkeit der Schule. Ich höre oft: "Was, dein Bua geht nur in die Hauptschule?"- "Ja, aber mein Dirndl geht ins Gymnasium". Das tut mir dann richtig weh. Dann ist das Mädchen mehr wert als der Bub? Davon müssen wir weg. Wir brauchen ein Sowohl-als-auch, nicht immer nur ein Entweder-oder. Die Pattsituation momentan ist furchtbar. Sie ist ideologisch überfrachtet, es gibt "Linke" und "Rechte", die aus einer politischen Treue das nachsagen, was andere ihnen vorsagen und die eigentlichen Problemfelder gar nicht mehr angreifen. Eine neue Lehrerbildung, mit unterschiedlichen Berechtigungen, wie sie gegenwärtig diskutiert wird, kann auch ein Lösungsansatz für die Sekundarstufe I der Zukunft sein.

Entfernen wir doch gemeinsam jene politischen Schranken, die verwurzelt scheinen, so lange gibt es sie schon. Angesagt ist ein evolutiver Wandel, kein radikaler, und ein gemeinsames Entwickeln der politisch Verantwortlichen und der fachlich Kompetenten. (Sebastian Pumberger, derStandard.at, 18.8.2012)