Wer den Unterschied in den geistigen Lebenswelten der USA und Europas an einem Beispiel aufzeigen will, sollte zu Ayn Rand greifen: Die Bücher der russisch-stämmigen Philosophin und Bestsellerautorin gehören zur Standard-Lektüre amerikanischer College-Studenten. In Deutsch hingegen sind ihre beiden Hauptwerke The Fountainhead (Der Ursprung oder Der ewige Quell) und Atlas Shrugged (Atlas schüttelt die Welt ab, Wer ist John Gait?) bis vor kurzem kaum erhältlich. Erst dieses Jahr wurde Atlas Shrugged unter dem Titel Der Streik neu aufgelegt.

Und Ayn Rand ist heute mehr als nur eine Kultfigur unter jugendlichen Querdenkern, die in ihrem radikalen Libertarismus, also die politisch-ethische Lehre von der völligen Autonomie des Individuums, persönliche Inspiration oder zumindest interessante Gedankenanstöße finden.

Rand hat eine ganze Generation amerikanischer Politiker geprägt, unter anderem den erst 42-jährigen Vizepräsidentschaftskandidaten der Republikaner, Paul Ryan. Sollte Ryan nächstes Jahr gemeinsam mit Mitt Romney ins Weiße Haus einziehen, wo er wohl intellektuell den Ton angeben wird, dann sind Rands Ideen im politischen Zentrum der Supermacht angelangt.

Verdient Ayn Rand diese Prominenz? Auch ich habe ihre Bücher einst verschlungen und sie trotz der platten Charaktere und schlechten Sprache geschätzt. Es gelingt ihr, das Streben ihrer holzschnitzartigen Helden nach persönlichem Erfolg und Erfüllung als moralischen Wert darzustellen, der die Welt insgesamt besser macht. Ihre Absage an jede Art des Kollektivismus, und sei es auch nur ein Sozialsystem nach europäischem Muster, ist zwar überzogen, aber in seinem engagierten Purismus wieder beeindruckend.

Aufgewachsen in der Frühzeit der Sowjetunion, gelang ihr 1926 die Ausreise in die USA, wo sie sich als radikale Anti-Kommunistin und Atheistin einen Namen machte. Zu ihren frühen Bewunderern zählte der spätere Fed-Chef Alan Greenspan, der viel dazu beitrug, Rand politisch salonfähig zu machen. Allerdings blieb Rand immer umstritten, nicht nur wegen ihres wirtschaftsliberalen Radikalismus, sondern wegen der Ablehnung von Religion und fast jeder staatlicher Einmischung – selbst in der Außenpolitik. Sie war für die völlige Legalisierung von Drogen und lehnte auch den Vietnamkrieg vehement ab.

Rand starb 1982, nachdem sie den damals frisch gewählten Präsidenten Ronald Reagan als christlich-konservativen Tyrannen beschimpft hatte. Seither nehmen sich die Republikaner die Freiheit, aus ihrer Ideologie des Objektivismus nur das heraus zu picken, was ihnen passt – also etwa Steuersenkungen und Deregulierung – und ihre einstigen linksliberalen Forderungen aber zu ignorieren.

Eine amputierte Ayn Rand wurde zur Ideengeberin für die Tea Party, und damit für die neue Republikanische Partei.

Das ist gefährlich. Denn so interessant Rands Philosophie auch ist, so unbrauchbar ist sie als Wegweiser für eine vernünftige konkrete Wirtschaftspolitik. Amerika ist bereits eine Gesellschaft, die dem Einzelnen sehr viel ökonomische Freiheit bietet, wo der Staat meist gehemmt und oft wirkungslos agiert.

Mit einer Staatsquote von 32 Prozent bewegen sich die USA am unteren Ende der Industrienationen. Und wenn man noch bedenkt, wie viel Geld in die Verteidigung fließt, dann wird es klar, dass das Land mehr Staat benötigt – wenn auch den richtigen – und nicht weniger, wie Ryan und Konsorten behaupten.

Dafür ist es schade, dass Ayn Rand in Europa so wenig gelesen wird. Der europäischen Wirtschaft fehlt es nämlich an Unternehmergeist, Risikobereitschaft und einem breiten Gefühl der Selbstverantwortung.

Für österreichische und andere europäische Studierende, die oft davon ausgehen, dass die Gesellschaft für sie sorgen wird und zornig protestieren, wenn dies nicht ausreichend geschieht, wären die Abenteuer von Howard Roark, der Hauptfigur von The Fountainhead, und Dagny Taggart aus Atlas Shrugged eine spannende Lektüre und eine Inspiration für eine neue Lebenseinstellung, die den Kontinent auch aus seiner wirtschaftlichen Lähmung herausführen könnte.