Wie so mancher hartnäckige Denker, Nietzsche zum Beispiel oder auch Kafka, war Fernando Pessoa im Leben ein armes Schwein. Jedenfalls nach gewöhnlichen Maßstäben. Die wenigen Glücksmomente, die sie genossen, waren womöglich Einbildung, und sie wussten es. Pessoa und viele seine Alter Egos, auch Heteronyme genannt, spielten mit dieser Einbildungskraft, gingen in ihren Schöpfungen auf, wollten sich darin verlieren. Von diesem Prozess, seinen Möglichkeiten und Gefahren, erzählt das Buch der Unruhe. Eine "Autobiografie ohne Ereignisse", um das berühmte Wort zu zitieren, eine "Geschichte ohne Leben"; eine Sammlung von Nichtigkeiten, doppelbödigen Wahrnehmungen, Träumen, Ängsten, Betrachtungen, die immer erneut das Absurde ansteuern.

Pessoa, nicht nur in der Verkleidung des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, war ein äußerst sensibles, menschenscheues Wesen, das nur selten sein Leiden an der Gesellschaft beklagte, sondern lieber eine antisoziale Doktrin skizzierte, um sie, wie alles, was er schrieb, im selben Atemzug ins Wanken zu bringen, sodass er zum alltäglichen Treiben der gewöhnlichen Menschen, denen er sich zurechnete und auch wieder nicht, in einer halb faszinierten, halb angewiderten Entfernung verharrte. Seinen persönlichen Mangel, erklärbar aus schwierigen Familienverhältnissen, versuchte er nicht etwa zu überwinden. Er setzte den Mangel auf den Stück für Stück gezimmerten Thron einer besonderen, mit dem Wort décadence nur unzureichend beschriebenen Ästhetik. Das Buch der Unruhe zeugt von Elitismus und Massenverachtung, aber auch von einer seltsamen Liebe zum Kleinen, Alltäglichen, Unnützen, zu Nuancen und Schattierungen, die sich mit großer Geste niemals festhalten ließen. Pessoa trug sich schon um 1914 oder früher mit dem Gedanken, ein Buch der Unruhe zusammenzustellen und zu veröffentlichen. In der späten Schreibphase der Dreißigerjahre taucht aber immer wieder der Gedanke auf, für die Nachwelt zu schreiben und aus dem Nichtveröffentlichen eine Tugend zu machen. Nachruhm nicht im Sinne einer besonders heimtückischen Großartigkeit, einer Rache an der Gegenwart, die ihm so übel mitspielte, sondern als Begegnung mit anderen empfindsamen Außenseitern, von denen es in der Rua dos Douradores, die für ein ganzes Land stehen mag, nicht viele gab.

Einer der nicht wenigen Haupt-Sätze des Buchs, an denen man hängen bleibt, um dann nicht mehr weiterzulesen, weil der Satz endgültig scheint, oder man liest erst viel später weiter, wenn man ein anderer geworden ist, lautet: "Was uns zugestoßen ist, ist entweder allen zugestoßen oder uns allein; im einen Falle ist es keine Neuigkeit, im anderen unverständlich." Ich zitiere hier aus jener Ausgabe des Buchs der Unruhe, die 1985 in der deutschen Erstübersetzung von Georg Rudolf Lind erschienen ist. In der neuen, vollständigen Ausgabe, mit der Inés Koebel beweist, dass Bearbeitungen älterer Übersetzungen keinen Bastardtext ergeben müssen, sondern auf der Basis des Älteren zu eindeutig besseren Formulierungen führen können, lautet derselbe Satz: "Was uns widerfahren ist, ist entweder allen widerfahren oder uns allein; in dem einen Fall ist es nichts Neues, im anderen unbegreiflich." Hier ziehe ich freilich die ältere Übersetzungsvariante vor, weil sie direkter das Dilemma des Verstehens und folglich des Schreibens fasst, das den Hilfsbuchhalter umtrieb. Das Besondere des Erlebens lässt sich nicht mitteilen; der Teil daran, der nachvollziehbar ist, ist bereits bekannt. Also wozu sprechen? Wozu schreiben? Eine der absurden Konsequenzen oder Maximen aus diesem und ähnlichen Dilemmata lautet: Tu das Belanglose, zeichne das Unverständliche auf! Pessoa verhehlte nicht, dass er sich für ein Genie hielt, aber gleichzeitig gab er nichts darauf, dieses Selbstbewusstsein anderen zu vermitteln. Bei seiner Unterscheidung zwischen Stolz und Eitelkeit fällt sein Charakter ganz auf die Seite des Stolzes. Im Bereich der "gewöhnlichen Menschheit" dürfte sich beides zur Unkenntlichkeit vermischen. Eitelkeit ist ein soziales Verhalten; der heillos Stolze ist asozial: der Eindruck, den er bei anderen hervorruft, ist ihm gleich.

Letzten Endes war das Schicksal, das Pessoa seinem Buch trotz aller Passivität - oder durch seine Art der Passivität - in die Wege leitete, nur konsequent, eine Realisierung jenes Prinzips Unsicherheit, das der Hilfsbuchhalter in zahlreichen Ansätzen beschreibt. Man hat gesagt, im Buch der Unruhe sei keine klare kompositionelle Ordnung erkennbar, bestimmt aber keine psychologische Entwicklung. Wenn Pessoa etwas beweisen wollte, dann die Vergeblichkeit einer solchen Ordnung. Einen hohen Unbestimmtheitsgrad zu erreichen und trotzdem noch lesbar zu sein war eines seiner Ziele. Es stimmt, dass das Buch der Unruhe eine Sammlung von Fragmenten ist und bleibt. Es stimmt aber auch, was Lind vor bald zwanzig Jahren schrieb, dass es eigentlich aus zwei Büchern besteht: einer Reihe von Texten aus den 10er-Jahren des 20. Jahrhunderts und einer zweiten, viel umfangreicheren, wie ein Tagebuch chronologisch angeordneten Serie, die zwischen 1929 und 1934 entstand. Die frühen Fragmente hat Pessoa an bestimmten Stellen in den handschriftlichen Gesamttext eingefügt - vielleicht auch an unbestimmten Stellen, aber jedenfalls eingefügt. Erstmals erschien das Buch der Unruhe 1982, 47 Jahre nach dem Tod des Autors. Mir scheint, dass sich bei aller Unsicherheit verschiedene Schichten des Werks unterscheiden lassen, Schichten des Ausdrucks und des Empfindens.

Da ist zunächst die Seite des Überdrusses, auch der Menschenverachtung, der sich der Hilfsbuchhalter zuweilen hingab - eine Seite, die Georg Rudolf Lind wohl nicht so gern sah, weshalb er sie bei seiner Auswahl wenig berücksichtigte. Da sind weiters jene Fragmente, die konkrete Wahrnehmungen - das Leben auf der Straße, im Büro, im Café, Wolkenformationen des Himmels, Geräusche, Wetterwechsel - zum Ausgang nehmen und häufig in Reflexionen oder Träumereien abdriften. Da ist das reine Träumen, in dem ansatzweise das Entstehen von Heteronymen sichtbar wird, das Sichhineinversetzen in andere, wirkliche oder unwirkliche Gestalten. Da ist die Sehnsucht des Hilfsbuchhalters nach Ruhe, der Quietismus, die Willenlosigkeit, die doch nie ganz erreicht wird, sodass das Buch in jedem Augenblick eines der Unruhe bleibt: "Weder heiter noch traurig . . . Nicht mehr sein, nicht mehr haben, nicht mehr wollen . . ." Da sind schließlich, vermehrt im letzten Teil des Buchs, jene Stücke, in denen sich die verzweifelte Einsamkeit Pessoas nahezu unverstellt äußert: "Ja, ich weine, ich weine vor Einsamkeit und Leben . . . Ich weine über alles, den Verlust des Mutterschoßes, den Tod der Hand, die man mir reichte, die Arme, die mich nie umfingen, die Schulter, an die ich mich nie lehnen konnte . . ." Dieses erneute Aufwallen der Existenznot könnte so etwas wie der Weisheit letzter Schluss sein, Beweis der Vergeblichkeit aller Anstrengungen zur Beruhigung, womit auch jene prägnante Behauptung Lügen gestraft wird: "Ich ruhe in meinem Leben wie in einem Grab."

Kann man über das Buch der Unruhe schreiben, ohne ein Wort über die Heteronyme zu verlieren? Gibt es etwas darüber zu sagen, das nicht schon tausendmal gesagt und folglich banal wäre? Vielleicht sollte man das Staunen über die Originalität des Dichters mindern und stattdessen den Ursprung der Heteronymie in der Alltagsbanalität erkennen. Originell fand sich Pessoa selbst, als er schrieb: "Bei mir ist es so, dass die beiden Wirklichkeiten, auf die ich achte, gleiche Bedeutung besitzen. Darin besteht meine Originalität. Darin besteht vielleicht meine Tragödie und deren Komödie." Er hielt aber auch fest: "Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten." Auch der Büroangestellte, der von einer Gehaltserhöhung träumt, ist ein Schöpfer von Werken der Fantasie. Im Grunde setzt jeder schöpferische Akt ein Moment der Schizophrenie voraus. Flaubert war Madame Bovary - wie auch nicht! Und ein Erzähler solcher Gnade war ohne weiteres im Stande, den verschiedenen Gestalten, die er war, verschiedene Ausdrucksweisen beizugeben. Vielleicht ist das Originelle an Pessoas Heteronymismus dessen Unendlichkeitsperspektive: Der Autor spaltet sich auf in ein Ich und eine Figur, zum Beispiel den Hilfsbuchhalter Soares. Aber Soares tut seinerseits das Gleiche und spaltet sich auf in zwei, und auch diese Geschöpfe tun wieder das Gleiche, auch wenn sie keine Schriften hinterlassen. Dieser Prozess ist unabschließbar und am besten darstellbar in einer unabgeschlossenen Sammlung von Fragmenten.

"Bei rascher Analyse scheint mir mitunter, dass ich ein Parasit der anderen bin, in Wirklichkeit aber nötige ich sie, Parasiten meiner künftigen Gefühlsregungen zu sein." Mit diesem Satz stellt Pessoa die Frage nach dem Vorrang von Subjekt oder Objekt, von Expressionismus oder Impressionismus. Zieht man das ganze Buch der Unruhe in Betracht, lässt Pessoa die Frage zwangsläufig offen. Auf einer der Ebenen gibt Soares die Identifikationen seiner Wahrnehmung wieder, auf einer anderen gebraucht er die Wirklichkeit als Stimulans seiner Einbildungen. Manchmal geschieht beides in ein und demselben Satz, und der wachende Träumer findet sich, wenn auch nur für kurze Zeit, in einem Paradies der Abwesenheit wieder. (Leopold Federmair/DER STANDARD; Printausgabe, 28.06.2003)