Bild nicht mehr verfügbar.

Und nun vergessen wir alle die bösen Streiks, schauen zukunftsfroh in die Kamera und wacheln ordentlich mit den Zeugnissen! Sehr schön, Kinder, und jetzt ab in den Stau!

Foto: APA/Pfarrhofer
Stichwort Schulreform: Wie soll es nach all den Debatten und Turbulenzen der vergangenen Wochen weitergehen? - Die beruhigende Antwort des Ministeriums heißt: "Zukunftskommission"


Die meisten französischen Lehrer gehen heuer mit zweierlei in die Ferien: erstens mit einem gewaltigen Groll auf die Regierung Raffarin, die dabei ist, ihnen die Dienstzeit zu verlängern und die Pensionen zu kürzen, zweitens mit einem Taschenbuch, das den schönen Titel "Lettre a tous ceux qui aimant l'école" trägt, also "Brief an alle, die die Schule lieben".

Der Verfasser dieses elegant geschriebenen Essays, der gerade rechtzeitig vor den Ferien zum Bestseller wurde, ist Bildungsminister Luc Ferry, Träger einer beeindruckenden Haarpracht und im "Zivilberuf" Philosophieprofessor.

Vermutlich werden viele Lehrer mit dem Reformprogramm Ferrys nicht übereinstimmen, aber eines ist gewiss: Der Minister wird dafür respektiert, dass er seine Vorhaben klar und deutlich ausformuliert hat und sich der rationalen Kritik stellt.

Dichtes Programm

Die meisten österreichischen Lehrer gehen heuer auch mit zweierlei in die Ferien: erstens mit einem gewaltigen Groll auf die Regierung Schüssel, die ... siehe oben, zweitens mit einem gewaltigen Frust über die Orientierungslosigkeit der österreichischen Schulpolitik.

Wie soll es mit der österreichischen Schule nach den Stundenkürzungen weitergehen? Was ist zum Beispiel, wenn sich die Leistungsstandards, die von der "Zukunfts"-Kommission des Bildungsministeriums erarbeitet werden, mit den gekürzten Unterrichtsstunden nicht erreichen lassen? Eine Zurücknahme der Stundenkürzungen? Eine Zurücknahme der Standards?

Auf der Homepage des Bildungsministeriums heißt es unter der Überschrift "Aktuelle Schwerpunkte im Bereich Schulwesen" unter anderem: "Festlegung von nationalen Leistungsstandards; Leistungsvergleich der Schulen". Abgesehen davon, dass hier der Begriff "Aktualität" all zu sehr strapaziert wird, denn dieses Reformvorhaben existiert bereits seit dem Regierungsprogramm der Ära Schüssel I:

Ist sich das Ministerium darüber im Klaren, auf welch radikalen Kurswechsel es sich mit einem "Leistungsvergleich der Schulen" einlässt? Hat das Ministerium das Geld und die Expertise für die Entwicklung eines verlässlichen Testinstrumentariums und für den gewaltigen jährlichen Aufwand?

Und: Sind Ministerium und Regierung bereit, die aus Frankreich und England hinlänglich bekannten schulischen und sozialen Nebenwirkungen von schulischen Leistungsvergleichen (soziale Segregation, "teaching to the test") in Kauf zu nehmen? Wie will man die zur Zeit hochgradig demotivierte und demoralisierte Lehrerschaft dafür gewinnen?

Ach ja, die "Zukunfts"-Kommission, die "große weiße Hoffnung" des österreichischen Schulwesens. Beim Lesen der Aufgaben dieser Kommission bleibt einem der Atem weg:

  • "Formulierung von Leistungsstandards, die verständlich aufzeigen, was die Schülerinnen und Schüler wissen und können sollen." (Also nicht mehr und weniger als eine umfassende Neubestimmung davon, was in Österreich heute unter Bildung verstanden wird.)
  • "Durchforstung der Lehrpläne nach überflüssigen und veralterten Lehrinhalten." (Das erfordert sowohl das Durcharbeiten von -zig Lehrplänen als auch eine tiefe Vertrautheit mit der jeweiligen "Logik des Faches".)
  • "Entwicklung einer zeitgemäßen Lernkultur mit fächerübergreifendem und projektorientiertem Unterricht." (Sehr schön, aber soll sie sich nicht in den Schulen entwickeln?)
  • "Neuerungen in der Lehreraus- und weiterbildung ..." (Wäre das nicht etwas für eine eigene Kommission, die sich darum kümmert, wie es mit der Lehrerbildung an den Universitäten und den Pädagogischen Hochschulen weitergeht?)
  • "Entwicklung von Instrumenten zur Qualitätssicherung und zur Qualitätsentwicklung ..." (Für den Volksschulabschluss? Für den Pflichtschulabschluss? Für die Matura?)

Und das alles bis Herbst 2003? Gibt es irgendwo am Minoritenplatz noch Graffiti aus dem Jahr 1968: "Seien wir realistisch, verlangen wir das Unmögliche!"?

Verschaufpause ...

Für Kommissionen, die im Auftrag von Regierungen White Papers, Denkschriften oder Bildungsgesamtpläne erarbeitet haben, gibt es zahlreiche ausländische Vorbilder, etwa die englische Kommission, die den "Plowden Report" über die Grundschulreform erstellt hat, oder die nordrhein-westfälische Kommission, von der die vielbeachtete Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" stammt.

Das Wertvolle an Kommissionsberichten dieser Art ist, dass sie keinesfalls "reine" Expertenberichte sind, sondern durch die jahrelange Kooperation von Wissenschaftlern, Schulpraktikern und Politikern, also durch die Konfrontation des politisch Gewünschten mit dem wissenschaftlich Gesicherten und dem schulisch Realisierbaren, ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit und breite Akzeptanz genießen.

Allerdings: Sowohl am Plowden-Bericht als auch an der nordrhein-westfälischen Denkschrift wurde nicht bloß ein paar Monate, sondern mehr als drei Jahre gearbeitet!

Was darf man also von der "Zukunfts"-Kommission angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit erwarten? Eine österreichische Neudefinition von "Bildung"? Kaum. Neue Lehrpläne? Auch nicht. Eine neue Lernkultur? Wie denn? Eine Reform der Lehrerbildung? Sonst noch was?

... und Blitzableiter

Viel wahrscheinlicher ist ein kleines, feines, unverbindliches Gutachten (die Kommission besteht aus guten Leuten), das es dem Ministerium erlaubt, mit zweierlei in die Ferien zu gehen: einer Alibi-Aktion, die eine politische Verschnaufpause verschafft, und einem Blitzableiter für die wegen der Stundenkürzungen zu erwartenden schulischen Herbstgewitter.

Und wer weiß: Vielleicht macht das Ministerium aus dem Kommissionsbericht ja noch ein nettes Taschenbuch, dann haben die österreichischen Lehrer/innen in den nächsten Ferien auch etwas zum Lesen!

Für den Fall, dass der Verdacht hochkommen sollte, dass hier ein Erziehungswissenschaftler schreibt, der beleidigt ist, weil er nicht zur Mitarbeit in der "Zukunfts"-Kommission eingeladen wurde: Unter den gegebenen Umständen hätte ich die Einladung abgelehnt.

Außerdem halte ich es mit Woody Allen: "Einem Verein, der bereit ist, so jemanden wie mich aufzunehmen, möchte ich nicht angehören." (DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.6.2003)