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Für viele Kinder ist die Schule ein regelrechter Kulturbruch - plötzlich müssen sie pünktlich sein, still sitzen, dürfen nicht laut sein.

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Familientherapeut Jesper Juul hält die frühe Trennung von Kindern nach Schultypen für "unheimlich dumm".

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Wenn er spricht, schweigen Eltern. Jesper Juul, umtriebiger dänischer Familientherapeut und Autor zahlreicher Bestseller, füllt mit seinen Lesungen und Vorträgen über Erziehung seit Jahren ganze Hallen. Orientierungssuchende Mütter und überforderte Väter hängen an seinen Lippen. Dabei sind Juuls Rezepte für die richtige Erziehung bestechend einfach – er plädiert für erwachsene Selbstreflexion und Kooperation im Umgang mit Kindern. Im Interview erklärt er, warum Eltern zwischen Schule und Kindern vermitteln sollten und weshalb das Lustprinzip in der Erziehung nicht funktioniert.

derStandard.at: Wie können Eltern ihren Kindern den Einstieg in die Schule erleichtern?

Juul: Sie sollten ihnen rechtzeitig klarmachen, dass es in der Schule anders zugeht als zu Hause. Kinder müssen wissen, dass dort eine ganz andere Kultur herrscht, dass es dort andere Menschen und Regeln gibt und dass sie manche davon vielleicht lustig oder komisch finden werden. Eltern sollten ihren Kindern nicht sagen, dass sie sich an die Schule anpassen müssen. Aber die Kinder müssen wissen, dass die Lehrer sie nicht immer hören und sehen werden. Eltern können ihren Kindern ruhig sagen: Du wirst die Schule nicht immer mögen. Aber du musst da jetzt hin, und du schaffst das.

derStandard.at: Für viele Kinder ist die Schule ein regelrechter Kulturbruch – plötzlich müssen sie pünktlich sein, still sitzen, dürfen nicht laut sein. Wie kann man ihnen dabei helfen, das zu akzeptieren, ohne sie zu verschüchtern?

Juul: Dafür ist Vorbereitung nötig. Man sollte Kindern keine Illusionen machen und ehrlich zu ihnen sein. Lehrerinnen und Lehrer tun allen einen großen Gefallen, wenn sie die Kinder mit ein bisschen Selbstironie und Humor in der Schule willkommen heißen. Man kann als Lehrer ruhig sagen: Wir sind hier ein bisschen komisch, bei uns müsst ihr still sitzen.Aber das tun viele Lehrer nicht. Die sind nur streng, betonen die Regeln und haben keinen Humor. Das ist unheimlich dumm.

derStandard.at: Viele Lehrerinnen und Lehrer sind überfordert, wenn Eltern ihre Kinder in der Schule gleichsam abgeben und ihnen die Erziehung überlassen. Wie kann man die Lehrer unterstützen?

Juul: Man kann die Lieferanten schimpfen, aber es ist nicht zu ändern. Ich glaube außerdem, dass es gar nicht so viele Eltern gibt, die sagen: Jetzt ist mein Kind sechs Jahre alt, jetzt soll die Schule die Erziehung übernehmen. Ich glaube eher, dass viele Eltern mit der Kultur der Schule nicht zurechtkommen. Sie sagen: Wenn die Schule etwas Bestimmtes von unseren Kindern will, dann muss sie selber dafür sorgen. In vielen Bereichen haben die Eltern die professionelle Pädagogik überholt. Und die Lehrer werden im Stich gelassen, von ihrem Arbeitgeber, bei der Ausbildung, bei der Fortbildung.

Wenn ich mit Lehrern arbeite und rede, kommen immer diese vier Fragen: Wie führt man einen sinnvollen Dialog mit einem Kind, das sich schwer anpasst? Wie führt man einen sinnvollen Dialog mit Eltern? Wie führt man einen sinnvollen Dialog mit Klassen? Und wie kann man als Lehrer im Team arbeiten? Diese vier Kompetenzen sind heute absolut notwendig, aber die wenigsten Lehrer haben sie, weil sie in der Ausbildung keine Rolle spielen. Der Krach zwischen Lehrern, Eltern und Schülern wird deshalb von Jahr zu Jahr heftiger.

derStandard.at: In Österreich gibt es keine Gesamtschule – die Kinder gehen mit zehn Jahren entweder in die Hauptschule oder in das Gymnasium. Was denken Sie über diese frühe Selektion?

Juul: Das ist unheimlich dumm – und trotzdem hält die Bildungspolitik daran fest. Zugleich reden die Politiker immer so, als bräuchten wir ausschließlich Akademiker in der Gesellschaft. Das ist erstens nicht wahr und erzeugt zweitens diesen riesigen Druck auf Kinder und ihre Eltern. Eine Grundregel der Physik besagt, dass Druck Widerstand erzeugt. Die Eltern üben Druck auf die Kinder aus und sagen: Du musst gute Noten haben. Du musst ins Gymnasium. Sie glauben, dass das hilft. Wir wissen aber aus 25 Jahren Erfahrung: Es hilft nicht.

derStandard.at: Stichwort Druck: Wie viel davon brauchen Kinder zum Lernen? Wo liegt die goldene Mitte zwischen Laisser-faire und Strenge?

Juul: Eines ist klar: Kinder brauchen Führung. Um diese Führung als erwachsener Mensch anbieten zu können, braucht man persönliche Autorität. Das ist es, womit Eltern und Lehrer derzeit hadern. Denn es gab ja über Jahrzehnte hinweg fast ausschließlich diese rollenbedingte Autorität nach dem Muster: Ich bin Lehrer, daher habe ich Autorität. Es gibt viele Eltern und Lehrer, die keine natürliche Autorität haben. Man bewegt sich noch innerhalb der alten Polarität zwischen "autoritär" und "Laisser-faire". Keiner dieser beiden Zugänge ist verwendbar. Wir müssen Alternativen in unserem Erwachsenenverhalten suchen.

Eines kann ich mit Sicherheit sagen: Mit engen Grenzen und Bestrafung kommt man nicht weiter. Wenn Eltern Angst vor Konflikten haben oder glauben, dass sie schlechte Eltern sind, wenn sie mit ihren Kindern streiten, dann läuft eine Familie irgendwann nach dem Lustprinzip; die Kinder dürfen dann alles machen, wozu sie Lust haben. Das funktioniert nicht. Ich kenne niemanden, auch nicht aus der 68er-Bewegung, aus der ich selbst komme, der allen Ernstes für das Lustprinzip in der Erziehung plädiert. Meistens ist es die Angst der Eltern vor Konflikten, die dazu führt, dem Kind alles durchgehen zu lassen.

derStandard.at: Wenn man nicht autoritär sein will, seine Kinder nicht schlagen oder bestrafen will – was macht man dann, wenn man ihnen nicht alles durchgehen lassen will?

Juul: Diese Frage müssen sich auch die Lehrer stellen. Wenn Kinder in die Schule kommen und erleben, dass sie dort respektiert, gesehen und ernst genommen werden – dann akzeptieren sie alle Regeln. Egal, ob diese Regeln dumm oder vernünftig sind. Denn für Kinder ist die Schule eine sehr persönliche Angelegenheit. Die Beziehung zum Lehrer hat massiven Einfluss auf ihre Lebensqualität, denn sie verbringen viel Zeit in der Schule.Das vergessen die Lehrer sehr oft und versuchen, das Verhältnis zum Schüler so unpersönlich wie möglich zu machen. Das ist ein riesiger Kurzschluss.

derStandard.at: Welche Rolle spielen die Eltern für die Qualität des Kind-Lehrer-Verhältnisses?

Juul: Eltern sollten sich konstruktiv in der Schule einbringen und nicht die Lehrer bei ihren Kindern schlechtmachen. Auch Eltern müssen sehen, dass die Lehrer Hilfe und Unterstützung brauchen; das heißt nicht unbedingt Solidarität, aber doch Dialog. Wenn das Kind frustriert aus der Schule kommt, ist es Aufgabe der Eltern, zum Lehrer zu gehen und zu sagen: Hören Sie, mein Kind ist täglich unzufrieden, es weiß nicht, was Sie von ihm wollen, vielleicht können Sie es mir erklären. Eltern müssen ihre Kinder darauf vorbereiten, dass sie ihr ganzes Leben lang mit Dingen konfrontiert sein werden, die nicht immer Spaß machen oder die ihnen fremd sind.

derStandard.at: Die Eltern müssen also zwischen Schule und Kindern übersetzen.

Juul: Genau. Die billige Haltung der Eltern, gegen die Schule zu sein, ist unheimlich unangenehm für die Kinder. Die erleben das überhaupt nicht als Solidarität. Die Entscheidung bei Eltern ist nicht: für das Kind oder für die Schule. Es geht darum, dass die Beziehung zwischen dem Kind und dem Lehrer oder der Lehrerin manchmal Hilfe und Anregung braucht. Das ist der Job der Eltern.

derStandard.at: Ist Schulschwänzen ein normales jugendliches Rebellionsverhalten, das man nicht überinterpretieren sollte, oder sollten Eltern das ernst nehmen?

Juul: Das kommt darauf an. In Europa ist es etwa ein Viertel der Kinder, die die Schule verweigern. Man nennt sie auch Drop-outs. Dabei sind es Push-outs, sie werden aussortiert. Diese Kinder bekommen keine Unterstützung und Hilfe. Besonders im deutschsprachigen Raum ist der Bildungsdruck so groß, dass die Eltern in Panik geraten, wenn ein Kind sagt: Ich mach da nicht mehr mit, ich will nicht mehr. Die Eltern reagieren darauf ganz anders als auf einen guten Freund, der zu ihnen sagt: Mein Gott, mit meiner Arbeit bin ich überfordert, ich muss was anderes machen. Da reagieren sie viel vernünftiger.

Kinder, die die Schule abbrechen, bleiben zurück mit einem Selbstbild, das so aussieht: Ich bin dumm, ich bin nicht wie die anderen, ich kann nicht lernen. Viele Eltern nehmen diese Sorgen ihrer Kinder nicht wahr. Wenn ein Kind drei Wochen lang keine Hausübung macht, muss man doch fragen: Was ist los? Und dann muss man zuhören. Aber so reagieren viele Eltern nicht, sie verdoppeln nur den Druck. Die Kinder denken sich dann: Ich bin nicht nur anders als die anderen Kinder, jetzt ist auch noch meine Familie gegen mich, jetzt bin ich alleine. Das macht sie wütend – vor allem auf die Schule. In Norwegen gibt es ein sehr erfolgreiches Schulprojekt für Schulverweigerer, es heißt "Pöbel". Denn so nehmen sich die Kinder wahr.

derStandard.at: Was bringen diese Projekte?

Juul: Die meisten Ansätze sind erfolglos, denn sie zielen nur auf die Schule. Das ist, wie wenn ein Alkoholkranker zum Psychotherapeuten geht und mit ihm nur über Alkohol spricht. Es geht aber um das Dahinter. Ein 15-Jähriger, der von der Schule weggeht, kostet unsere Gesellschaft in den folgenden zehn Jahren ungefähr 1,5 Millionen Euro. Es ist also auch unheimlich teuer.

derStandard.at: Ist es bei Schulproblemen immer notwendig, die Familie einzubeziehen?

Juul: Ja, das Kind oder den Jugendlichen herauszugreifen bringt sehr wenig. Für Eltern sehe ich eine sehr wichtige Rolle als Vermittler – zwischen Kind und Schule, Kind und Lehrern. Die Kinder müssen einen extrem hohen Preis bezahlen, wenn diese Beziehung nicht gelingt. (Lisa Mayr, derStandard.at, 2.9.2012)