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Drei Jahre lang wurde Anna Maria Scarfò immer wieder in ihrem Heimatort vergewaltigt.

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Am 17. August erscheint das Buch "Sommer des Schweigens" im Bastei Lübbe Verlag.

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"Dies ist die Geschichte einer dreizehnjährigen Hure. Meine Geschichte. Es ist nicht leicht, sie aufzuschreiben. Und genauso wenig wird es leicht sein, sie zu lesen. (...) Doch wenn Sie einmal damit anfangen, dann haben Sie auch den Mut und lesen Sie es ganz zu Ende, so wie ich den Mut hatte, alles zu durchleben, wovon ich Ihnen erzählen werde."

In dem Buch "Sommer des Schweigens" erzählt Anna Maria Scarfò mithilfe der italienischen Journalistin Cristina Zagaria ihre bewegende Geschichte. "Ich musste alles schnell niederschreiben", erzählt Zagaria im Gespräch mit derStandard.at. Das Thema war zu schmerzlich, um es allzu lange "in meinem Kopf, auf meiner Haut, in meinem Computer zu behalten". Die Journalistin erfuhr von Scarfòs Geschichte über den Hinweis einer Leserin ihres Blogs. "Ich habe mich gefragt: Warum erzählt sie keiner?" Kurz darauf traf sie Anna Maria in Kalabrien. "Mein erster Eindruck war: Die ist tough!"

Dutzende Vergewaltigungen

Sätze wie "Ich will nicht davonlaufen. Ich trage keine Schuld" oder "Niemand kann mir etwas antun. Denn sie haben schon alles getan" lassen die Leser diese mentale Stärke erahnen. Schonungslos beschreibt Scarfò ihren Leidensweg. An Anna Marias 13. Geburtstag, dem 11. März 1999, spricht Domenico Cucinotta das Mädchen zum ersten Mal an. "Ich möchte mich mit dir verloben", verspricht ihr der 20-Jährige. Dieser Satz ist der Beginn einer jahrelangen Tortur: Dutzende Vergewaltigungen durch Cucinotta, seine Freunde und schlussendlich auch fremde Männer. 

Die erste Vergewaltigung geschah in einer Hütte außerhalb des Dorfes. Noch heute erinnert sich Anna Maria an die Gerüche, die Stimmen und die Schmerzen. Nur ihre Gesichter blendet die junge Frau nach wie vor aus. Vier Männer legten das damals 13-jährige Mädchen auf einen Tisch und missbrauchten es immer wieder. "Ich habe geglaubt, ich sterbe. Aber ich habe weitergelebt."

Der Priester "befreite sie von der Schuld"

Um diese Schmerzen nie wieder durchleiden zu mussen, versuchte das Mädchen kurz danach das erste Mal ihren Peinigern zu entkommen. Anna Maria sprach mit dem Priester der örtlichen Kirche, der ihr "verbot", weiterhin vorehelichen Sex mit älteren Männern zu haben und sie von ihrer "Schuld befreite".

Schließlich wurde sie von einer Nonne des Dorfes zu einem Schwangerschaftstest gezwungen und zu einem Internat in einer anderen Stadt gebracht. Dort wollte man sie nicht aufnehmen, weil sie keine Jungfrau mehr war. Dass das Mädchen selbst Schuld an dem Geschehenen hatte, stand für die kirchlichen Vertreter nie außer Zweifel. "Du darfst so etwas nie wieder tun", schärfte ihr die Nonne ein.

Scham und Angst

Um sich selbst zu schützen, beschloss Anna Maria erwachsen zu werden. Sie warf mit ihren Stofftieren auch ihre Kindheit in Kisten und weinte nur noch ein einziges Mal. Sie war fünfzehn Jahre alt, hatte keine Arbeit und keine Freunde.  Das war laut Scarfò auch der Grund, wieso sie den Männern aus dem Dorf folgte. Sie waren die einzigen Menschen, mit denen sie sich treffen konnte.

Anna Maria wurde von ihnen am Handy angerufen, dann musste sie an einem vereinbarten Treffpunkt erscheinen. Sie tat es, weil sie nicht wollte, dass die Männer von ihren Taten erzählen. Zu groß war die eigene Scham und die Angst, dass ihre Eltern in dem streng katholischen Dorf den Gehässigkeiten der Bevölkerung ausgesetzt werden. Um jeden Preis wollte sie ihre Familie vor den Verbrechen beschützen. 

"Aus Liebe zu meiner Schwester"

Waren es zu Beginn immer die gleichen Männer aus dem Dorf, die Anna Maria missbrauchten, beteiligten sich mit den Jahren immer mehr Personen an den Verbrechen. Das Mädchen wurde zu ihrem Eigentum, das sie weiterreichten, um Schulden zu tilgen oder Gefälligkeiten zu erweisen. Nach den Vergewaltigungen traten sie mit den Schuhen in ihren Bauch, um sicherzugehen, dass sie nicht schwanger wurde. "Ich spüre keine Angst mehr. Ich spüre keinen Ekel. Ich spüre keine Wut. Nur eines hat sich nie geändert. Ich habe mich nicht daran gewöhnt."

Ihr eigener Körper wurde Anna Maria gleichgültig. Sie akzeptierte ihr Schicksal und arrangierte sich mit den Verbrechern. Doch um ihre kleine Schwester zu beschützen, beschloss sie, zu kämpfen. "Als ich endlich gesagt habe, es reicht, habe ich das aus Liebe zu meiner Schwester getan. Für mich hatte ich keine Liebe mehr. Habe ich nie gehabt." 2002 forderten ihre Peiniger, dass sie zum nächsten Treffen ihre damals 13-jährige Schwester mitbringen sollte. Das war der Moment als Anna Maria aufwachte.

Der Hass des Dorfes

Von diesem Augenblick an wehrte sich Scarfò: Nach drei Jahren Tortur erstattete sie Anzeige bei der Polizei und zog sie auch nicht mehr zurück, als ihre Peiniger ihre Eltern unter Druck setzten. Die damals 16-Jährige blieb auch dann noch auf ihrem Weg, als sich das gesamte Dorf gegen sie wendete: Als "die Rotte" ihren Hund erschlug, immer wieder bei ihr zu Hause anrief und sie als "Hure" oder "Schlampe" beschimpfte.

Ihre Mutter schloss sich ihrer Anzeige an und unterstützte damit ihre Tochter. Anna Marias Stütze während der darauffolgenden Prozesse war allerdings ihre Anwältin, die sie liebevoll Avvocatessa nennt, obwohl es im Italienischen keine weibliche Form des Wortes gibt. "Dank ihr stelle ich mich den Untersuchungen bei Frauenärzten und Psychiatern, den Vernehmungen. Dank ihr stelle ich mich dem Prozess", schreibt Scarfò über sie.

Umfassendes Schutzprogramm

Insgesamt 12 Männer zeigte die junge Frau an, fast alle wurden verurteilt. Das Gericht war auf Anna Marias Seite, das Dorf noch lange nicht. Weil die Verfolgungen und Beschimpfungen auch nach den Schuldsprüchen nicht aufhörten, bot der italienische Staat der Frau ein umfassendes Schutzprogramm an. Zum ersten Mal in der Geschichte Italiens wurde einem Stalking-Opfer solch ein Schutz zugesprochen.

Obwohl sie ihren Ort und ihre Familie nicht verlassen wollte, wurde der psychische Druck auf die mittlerweile 24-jährige Frau zu groß. "Acht Jahre nach der Anzeige und nach vier Prozessen haben die Drohungen nicht aufgehört." Seit dem Jahr 2010 lebt sie nicht mehr in ihrem Heimatdorf und unter ständigem Polizeischutz.

Aufwühlende Diskussionen bei Präsentationen

Noch immer löst das Buch "Sommer des Schweigens" laut Autorin Cristina Zagaria "heftige, emotionale und aufwühlende Diskussionen aus, egal wo wir es vorstellen". Das Schönste an der Arbeit war für die Journalistin allerdings der Kontakt zu Anna Maria selbst: "Mit ihr über ihre Träume, ihre Zukunft, ihre Hoffnungen zu reden und nicht über Gewalt, die ihr angetan wurde. Das hat mich bewegt."

Viele Personen wollten die Veröffentlichung des Buches verhindern, erzählt Zagaria. So wurden Dutzende Drohungen auf dem Blog der Journalistin gepostet.Und trotzdem, oder gerade deshalb, ist es die Geschichte wert, erzählt zu werden. (Bianca Blei, derStandard.at, 16.8.2012)