Weber erklärt, was schrumpfende Dörfer tun können.

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Standard: Stirbt das Land aus?

Weber: Das kann man teilweise schon behaupten, nur verläuft die Grenze nicht zwangsläufig zwischen Stadt und Land, sondern zwischen strukturstarken und -schwachen Gebieten. Letztere leiden unter großen Bevölkerungsverlusten – durch Abwanderung und die niedrige Geburtenrate der Verbliebenen.

Standard: Worin besteht diese strukturelle Schwäche?

Weber: Diese hat viele Facetten: Wenige Arbeitsplätze für hoch Qualifizierte, geschlossene Postämter, Tankstellen, Schulen, ausgedünnte Nahversorgung – zwölf Prozent der Gemeinden haben kein Lebensmittelgeschäft mehr. Weil es keine Treffpunkte gibt, begegnet man sich wenig. Ohne Auto ist man arm dran.

Standard: Sind diese Phänomene Ursache oder Wirkung?

Weber: Beides. Das ist eine Spirale, die alles immer weiter nach unten zieht.

Standard: Wer wandert ab?

Weber: In erster Linie gut ausgebildete Junge. Frauen haben dabei die höhere Abwanderungsneigung. In einigen Gemeinden gibt es doppelt so viele 20- bis 29-jährige Männer als Frauen. Letztere sind oft besser qualifiziert und patenter bei der Gründung eines neuen Wohnplatzes, während junge Männer eher die Pension Mama vorziehen und den lokalen Betrieb übernehmen. Die Männer sind auch besser ins Dorfleben integriert, während Frauen soziale Enge und patriarchale Muster abschrecken.

Standard: Was bedeutet das für Orte?

Weber: Nichts Gutes, weil Frauen der Kitt sind, der ein Dorf zusammenhält. Durch die Kinder setzen sie sich stärker für den Ort ein und sind tagsüber häufiger präsent. In Männerorten bleibt ein unterschwelliges Frust- und Aggressionspotenzial zurück – wie in Ostdeutschland zu sehen ist.

Standard: Wie kann man junge Menschen vom Gehen abhalten?

Weber: Vielfach gar nicht. Wer einmal zur Abwanderung entschlossen ist, lässt sich nicht aufhalten – und das ist gut so. Junge Menschen müssen Erfahrungen anderswo sammeln, gerade im urbanen Raum, das gehört für viele zu einem erfüllten Leben dazu. Man kann die Leute nicht annageln, das ist zum Scheitern verurteilt und entmutigt Gemeinden nur noch mehr. Lieber sollte man sich um jene kümmern, die nicht weg wollen, und dann Chancen für Zu- und Rückwanderung nützen. Dafür muss sich vielerorts aber schon atmosphärisch eine Menge ändern.

Standard: Inwiefern?

Weber: Neuankömmlinge und Rückkehrer fühlen sich oft nicht willkommen – vor allem Frauen. In vielen Orten gibt es eine Clique der Eingeschworenen, die einen ewig nicht akzeptiert. Ich kenne das aus eigener Erfahrung vom Attersee: Gut ausgebildete Frauen, die zurückkehren, werden mit Skepsis beäugt. Die Männer sind verunsichert, wie sie etwa mit einer Uni-Professorin wie mir umgehen sollen – vielleicht aus Angst, sich zu blamieren.

Standard: Was braucht es noch?

Weber:Ein entscheidender Faktor sind attraktive Jobs. Dazu muss man beobachten, wohin die Entwicklung geht, und sich dann spezialisieren – etwa auf erneuerbare Energie, Bauen mit Holz, Beautytourismus, Gesundheit oder Altenbetreuung. Die Gemeinden müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, statt ewig zu hoffen, dass Bund und Land die Geldschleusen öffnen. Denn das wird auf absehbare Zeit nicht mehr passieren.

Standard: Lässt sich die Zentralisierung aufhalten?

Weber: Extremstandorte werden nicht zu halten sein, das muss sich die Gesellschaft eingestehen. Der Wettbewerb ist in der globalisierten Wirtschaft so hart, dass nur beste Lage und Infrastruktur einen Vorteil bringen. Ich plädiere für Rückzugsstrategien. Es ist sinnlos, sämtliche Gebäude und Infrastruktur mit Gewalt zu erhalten, wenn sich keine Nachnutzung findet. Manche Orte müssen bereits Abwasserkanäle künstlich durchspülen, weil zu wenige Benutzer da sind. Viele Häuser drohen brachzuliegen, weil die Kinder weggezogen sind. Da braucht es einen geordneten Schrumpfungsprozess, etwa indem Wohnbaugelder umgepolt werden, um Rückbau oder Abriss zu finanzieren. Das ist vielleicht ein volkswirtschaftlicher Verlust – aber auch ein Gewinn für die Natur. (Gerald John, DER STANDARD, 13.8.2012)