Die Bevölkerungsentwicklung in Österreich.

Grafik: DER STANDARD

Vordernbergs Bürgermeister Hubner vor verlassenem Haus: "Sogar die Apotheke ist eingegangen. Das musst erst einmal schaffen."

Foto: Standard/Hendrich

Ex-Bergmann Lampl im aufgelassenen Hochofen: "Heute rührt sich nichts mehr. Der Ort ist fast wie tot."

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Adolf Lampl lässt sich die Show nicht nehmen. "Ein bissl was lernen schadet nicht", sagt er und winkt hinein ins modrige Gemäuer. Mit leuchtenden Augen führt er zu Kohlböden und Rauchhauben, lässt Wasser auf das hölzerne Antriebsrad fließen. Doch die Energie verpufft, der Ofen bleibt kalt. Statt flüssigem Roheisen bahnt sich bloß eine orange Neonschlange als Attrappe den Weg ins Freie.

Lampl wirft das Radwerk IV nur mehr für Gäste an. Vor hundert Jahren ist der letzte der Vordernberger Hochöfen, die zu Kaisers Zeiten mehr Eisen produzierten als die böhmischen Kronländer zusammen, erloschen. Seither, erzählt der 73-Jährige, hat "ein Zahnrad ins andere gegriffen" - und ein Perpetuum mobile des Verfalls in Gang gesetzt. "Heute rührt sich nix mehr", sagt Lampl: "Der Ort ist fast wie tot."

Leere Werksheime mit verdreckten Fensterscheiben säumen die holprige Einfallstraße, die sich vom Murtal Vordernberg nähert. Wegweiser führen zu Wirtshäusern, die vor Jahren das letzte Bier gezapft haben, an grauen Eternitfassaden locken Schilder kühne Käufer. Vor dem aufgelassenen Bahnhof dämmern ausrangierte Waggons. Gearbeitet wird hier nur, weil eine Windhose neulich Dachschindeln abgedeckt hat.

Die Schuhmacher waren die Ersten, die es erwischt habe, erzählt Lampl. Das Unheil kam in Gestalt des Gummistiefels - "dafür haben wir alle Schweißfüß' gekriegt". Doch abgesehen davon war damals in den Fünfzigern, als Lampl als blutjunger Bergmann am nahen Erzberg zu arbeiten begann, noch viel los im rußgeschwärzten Industrieort. 14 Gasthäuser gab es, unzählige Schenken, prächtige Bälle von Knappen und Eisenbahnern - und die eine oder andere Rauferei: "Wir sind halt ein raues Volk."

Beim Zusperren vorn dabei

Lampl war nicht der Einzige, den in den folgenden Jahrzehnten Stahlkrisen, Rationalisierung und Strukturwandel in die Frühpension gedrängt haben. Schoben in den Fünfzigern noch 400 Vordernberger am Erzberg Schicht, so sind es heute nur mehr zwei - obwohl mehr Tonnen abgebaut werden denn je. Seit eine verheerende Lawine im März 1988 die Trasse der Zahnradbahn auf den Berg verschüttet hat, wird das Erz an der Westseite des Präbichl-Passes, an Vordernberg vorbei, abtransportiert. 2001 hat die ÖBB den Ort letztlich vom Netz abgeklemmt.

"Wenn es ums Zusperren geht, sind wir immer vorn dabei", sagt Bürgermeister Walter Hubner in einem Anflug von Sarkasmus. Die Post ist längst weg, die Schule von acht Klassen auf eine geschrumpft. Auch von den Wirten hat nur einer überlebt. Nächster Wackelkandidat ist die Schlecker-Filiale mit den schütter bestückten Regalen, in denen von vielen Artikeln nur ein einziges Exemplar liegt. "Sogar die Apotheke ist eingegangen, wohl als einzige in Österreich", berichtet Hubner: "Das musst erst einmal schaffen."

Ein Hundstag kündigt sich an in der Obersteiermark, doch hinter den burgmauerdicken Wänden des Rathauses ist es so kalt, als liefe eine Klimaanlage auf Hochtouren. Hubner zitiert entmutigende Statistiken, schöngefärbt sind lediglich die renovierten Häuser im Ortskern. Vordernberg schrumpft und altert massiv. Vor allem die Jungen ziehen weg, weil sie keine guten Jobs finden, sagt der Bürgermeister. Die Regierungen hätten völlig verschlafen, dass in der Mur-Mürz-Furche die Arbeit verlorengeht - "und alles Geld nur in den Grazer Autocluster und andere Zentren gesteckt".

Mit den Bürgern - verblieben sind noch 1052 - brechen die vom Staat zugeteilten Steuereinnahmen weg, was den Erhalt von Kanal, Straßen, Beleuchtung aber nicht billiger macht. Nicht nur wegen der strengen Winter - "wenn in der Südsteiermark die Schnee-glöckerln blühen, schaufeln wir noch Schnee" - komme die Infrastruktur teurer als anderswo, sagt Hubner. Wird endlich ein Haus saniert, treibe der Denkmalschutz die Kosten nach oben: "Verfallenlassen ist hingegen gratis."

Das Gemeindebudget ist mit einem Defizit von 15 Prozent heillos überlastet. Der für die vielen Alten lebenswichtige Greißler wäre längst zu, hätten die Bürger nicht in einer Art Genossenschaft einen zinsenlosen Kredit zusammengekratzt. À la longue sollen sie die Investition in Form von Warengutscheinen zurückbekommen - wenn es denn gut läuft.

Geld soll auch aus dem Osten fließen. Zwölf leere Gebäude hat ein Bosnier in der Gemeinde, wo Grundstücke zur Blütezeit im 19. Jahrhundert zu Wiener Ringstraßenpreisen notierten, um 1,5 Millionen gekauft. Oben am Präbichl investieren Ungarn, für die Hubner mitunter persönlich den Lebensmittelzusteller spielt - bläst der Sturm nicht wieder das Weihnachtsgeschäft weg, könnte das kleine Skigebiet vielleicht aufblühen. Die größte Hoffnung aber schlummert am Südzipfel des Ortsgebiets inmitten von Wiesen.

"Dreams are my reality" tönt aus dem Radio, als Hubner entlang überwucherter Geleise zu einer enormen Baustelle fährt. Vordernberg hat den Zuschlag für das neue österreichische Schubhaftgefängnis ergattert - und die Zusage des Innenministeriums, dass die Gemeinde Reinigung, Friseur, Medikamentenlieferung und andere Dienstleistungen für die auf Abschiebung wartenden Asylwerber organisieren darf. Die Bewerbungen füllen bereits zwei Ordner, ehe überhaupt ein einziger Job ausgeschrieben ist.

Ob die Vordernberger für eine "positive Gemeindeentwicklung" und "die Absicherung der örtlichen Infrastrukturen" seien, hat Hubner bei der Volksbefragung über das Schubhaftzentrum wissen wollen - leicht suggestiv, wie er lächelnd zugibt. Aber das Ja von 70 Prozent heiligte die Mittel.

Die Gemeinde schafft sich ab

Nun will der SP-Politiker die Bürger von neuem befragen, und wieder geht es um eine Idee, gegen die sich die meisten anderen Orte verbissen wehren. Vordernberg soll mit drei Nachbargemeinden fusionieren, zu einer " Stadt" mit waldigen 171 Quadratkilometern - größer als Graz. Lohn: billigere Verwaltung und 1,2 Millionen Euro pro Jahr mehr an staatlichem Steuergeld, zumal die Einwohnerzahl über 10.000 liegen würde.

Einen Nachteil müsste Vordernbergs Bürgermeister freilich persönlich schultern: "Ich schaffe mich damit selbst ab." (Gerald John, DER STANDARD, 11.8.2012)