Salzburg - Durchwachte Nächte habe sie schon gehabt in letzter Zeit, sagt Cornelia Rainer. Und, nein, nicht etwa wegen ausufernden Festspiel(party)getümmels. Das habe sie während der sechswöchigen Probenzeit gar nicht mitbekommen, draußen im Lehrbauhof inmitten grüner Wiesen und Felder.
Sven-Eric Bechtolf hat sie und ihr Theater Montagnes Russes zum Young Directors Award eingeladen. Es ist keine junge Bekanntschaft zwischen der 30-jährigen Regisseurin und dem Schauspieldirektor, die in der Auftragsproduktion Jakob Michael Reinhold Lenz gipfelt. Der Erstkontakt fand 2005 statt, als Rainer bei Andrea Breth am Burgtheater assistierte und Bechtolf den Tellheim in Minna von Barnhelm spielte. Im Jahr darauf assistierte sie bei seiner Wiederaufnahme von Schnitzlers Reigen. Bechtolf spielte auch selber, "nach den Vorstellungen redeten wir viel über inhaltliche Dinge. Ich weiß nicht, ob Herr Bechtolf es ebenso sieht, aber für mich war es, jetzt im Nachhinein betrachtet, eine Art Prüfung."
Die sie offensichtlich bestand: 2009 machte ihr Bechtolf den Antrag, mit ihm am Hamburger Thalia Theater Richard II. in Form eines Monologs zu realisieren: "Das war schon eine große Herausforderung. Es war mir wichtig, dass ich meine eigene Textfassung schreibe, also Form, Struktur, Ästhetik vorgebe. Die Fassung der Leseprobe war schließlich im Großen und Ganzen die Premierenfassung. Dies ist, gerade bei einer eigenen Bearbeitung, eher ungewöhnlich und nicht unbedingt erstrebenswert. Aber für unsere Zusammenarbeit war zunächst das Einhalten und Folgen meiner Linie wichtig; innerhalb dieses Korsetts habe ich ihm aber Freiräume geschaffen. Uns beide trennen über zwanzig Jahre Theatererfahrung, nur das Einlassen aufeinander konnte uns zu diesem erfolgreichen Ergebnis führen. Ich glaube, zu der Zeit hat sich herausgestellt, dass er nach Salzburg geht."
Als Brückenschlag zur Festspiel-Premiere von Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten nach einem Drama des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz bot Bechtolf seiner Ex-Regisseurin den Stoff an, dachte dabei aber eher an eine 1:1-Bearbeitung von Georg Büchners Erzählung Lenz. Doch Rainer schrieb, gemeinsam mit der Dramaturgin Sibylle Dudek, eine Collage aus Texten von Lenz, Büchner und - ihre wichtigste Quelle - Aufzeichnungen des Pastors Johann Friedrich Oberlin, in dessen Obhut sich Lenz, in desolatem psychischem Zustand, vom 20. Jänner bis zum 8. Februar 1778 in Waldersbach in den Vogesen befand.
Schriften setzen Kraft frei
Immer wieder wurde Lenz als Schattenfigur Goethes dargestellt; der Weimarer Dichter soll ihm die meisten Texte geschrieben haben. Unwahrscheinlich, konstatiert Rainer: "Lenz' Schriften sind schwer zugänglich, aber sie setzen eine große Kraft frei. In seinem Werk geht es vor allem um die Zuwendung zum einfachen Volk und um den unermüdlichen Willen zur Veränderung und zum Weiterkommen: 'Handeln ist die Seele der Welt', dieser Gedanke zieht sich durch sein gesamtes Werk. Immer wieder heißt es bei ihm: 'Man muss sich mit dem Pöbel beschäftigen. Mein Publikum ist das ganze Volk.' Das kompromisslose Sozialbewusstsein eines jungen Menschen - am Höhepunkt seines dichterischen Schaffens war er 27 Jahre alt - fasziniert mich sehr."
Auch für die Tochter eines Lienzer Tischlers und einer Hausfrau bedeutet Theater, sich sozial zu engagieren, Wirklichkeiten außerhalb seiner selbst zu erkennen und zu beschreiben, über die bloße Selbstverwirklichung hinauszudenken: "Es ist ein Umweg für mich, zum Menschen und zum Leben zu kommen."
So realisierte sie 2009 gemeinsam mit Musicbanda Franui ihr Bregenzer Theaterprojekt Nur ein Gesicht mit älteren Menschen. Für I wanna be (made) wiederum holte sie heuer im Frühjahr Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten auf die Bühne des Wiener Dschungel. Dass sie nun, nach Jahren in der freien Szene, bei den Festspielen zugleich mit ihrer ersten großen Lehrmeisterin Andrea Breth eingeladen ist, hätte sie sich " im Leben nie erträumt. Regisseure wie sie haben mich an der Burg sehr geprägt: wie sie Texte liest, in welcher Ernsthaftigkeit sie an Stücke herangeht, Figuren entwickelt, ihre große Präzision. Struktur ist wichtig für meine Arbeit, sie verhilft mir erst zu einer genauen Wahrnehmung."
Eine dieser Strukturarbeiten war die Gründung des Theaters Montagnes Russes: klingt nach russischem Gebirge. Heißt aber auch Achterbahn. Und die ist Kernstück ihres Lenz-Bühnenbildes: ein schwindelerregendes, bombastisches und auf den ersten Blick kaum weiterverwertbares Konstrukt. Aber sie hat es gemeinsam mit ihrem Bühnenbildner Aurel Lanfert so konzipiert, dass man es in Einzelteile zerlegen und, je nach Bedarf, nur Podeste oder die Drehbühne verwenden kann.
Und es klingt wie eine Metapher auf ihre YDP-Teilnahme, wenn Cornelia Rainer sagt: "Ich finde den Gedanken schön, dass man ein Fundament baut und damit immer neu weiterarbeitet und weitersucht." (Andrea Schurian, DER STANDARD, 11./12..8.2012)