Mädchen spielen bei "Fun & Care" Fußball. Auch in Rosarot.

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Das Symbol Rosa. Farbvorgaben gibt es in diesem Kindergarten keine.

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Ein milder Tauwetter-Tag im Jänner, zehn Uhr vormittags. Vom Regen draußen ist im Kindergarten in der Wiener Gablenzgasse nichts zu spüren. Etwa 20 Mädchen und Buben zwischen drei und sechs Jahren sitzen im Kreis auf kleinen bunten Holzsesseln. An den Fensterscheiben kleben Kinderzeichnungen, es riecht nach Malfarben. Pädagoge Michael Fimberger spielt Gitarre, die Kinder singen begeistert aus vollen Kehlen. Dass eine Reporterin im Raum ist, motiviert sie besonders; manche Kinderstimme überschlägt sich fast vor Freude.

Fimberger ist ein fröhlicher Endzwanziger mit rundem Gesicht und kurzem blondem Haar. Er arbeitet seit neun Jahren hier. Der letzte Akkord des Liedes ist noch nicht verklungen, da rufen die Kinder schon laut Liedwünsche durcheinander. Fimberger fragt ein stilles Mädchen, was es gerne singen würde. Es wünscht sich schüchtern das Lied von Pippi Langstrumpf.

Kaum Männer

Der "Bildungskindergarten Fun & Care" ist Wiens einziger mit geschlechtssensibler Kleinkindpädagogik. Was sperrig klingt, ist eigentlich ein simples Konzept. Es gehe darum, die Handlungsspielräume der Kinder zu erweitern, indem man ihnen vielfältige Rollenbilder anbietet, erzählt Kindergartenleiterin Sandra Haas. "Wir zeigen den Kindern täglich, dass ich als Frau etwas reparieren, laut sein und mir Raum nehmen kann. Umgekehrt können die männlichen Betreuer fürsorglich sein, wickeln und trösten." Deshalb werden die Kinder hier von Frauen und Männern betreut.

Eine Seltenheit. In Wien kommen derzeit auf 3.355 Kindergärtnerinnen nur 54 Kindergärtner – das sind 1,6 Prozent. Bundesweit ist der Anteil männlicher Betreuer in Kindergärten noch geringer. Eröffnet wurde der private Kindergarten im Jahr 1999, die Stadt Wien startete ihn als Pilotprojekt. Längst läuft er im Regelbetrieb, die Warteliste für die begrenzten Plätze ist lang.

Angelernt und daher veränderbar

Grundlage der geschlechtssensiblen Pädagogik ist die Überzeugung, dass Geschlechterrollen nicht naturgegeben, sondern angelernt und daher veränderbar sind. Das Konzept geht davon aus, dass Mädchen und Buben aufgrund familiärer und gesellschaftlicher Prägungen nicht gleich sind. Um Gleichstellung zu erreichen, reiche es daher nicht, sie einfach "gleich" zu behandeln. Vielmehr müssten sowohl bei Mädchen als auch bei Burschen bestimmte Dinge gezielt gefördert werden – etwa die Freude an Technik oder der Zugang zu den eigenen Gefühlen.

"Gerade in der Kindheit tut sich ganz viel", sagt Sandra Haas. "Kinder werden schon vor der Geburt auf ihr Geschlecht geprägt. Wir versuchen, ihnen Rollenmöglichkeiten anzubieten, die für Gleichberechtigung im späteren Leben die Basis sind – wirtschaftlich, sozial, gesellschaftlich." Gleiche Chancen- und Lastenverteilung zwischen Frauen und Männern könne in der Praxis nur funktionieren, wenn die dafür notwendigen Fähigkeiten früh vermittelt werden. Die Betreuerinnen und Betreuer bei "Fun and Care" leben den Kindern täglich vor, dass Frauen nicht "von Natur aus" für Küche, Haushalt und Trösten zuständig sind. Und dass Männer schwach, sensibel und schlechte Handwerker sein können.

Keine Lust aufs Kicken

Oder Fußball nicht mögen. So wie Michael Fimberger. "Ich bin generell ein bisschen atypisch", sagt er. "Arbeiten an der Werkbank, Sägen und Hämmern interessiert mich nicht. Meiner Kollegin taugt das dafür irrsinnig. Fußball spielen mit den Kindern ist auch ihr Metier." Er kümmere sich lieber um die Kreativitätsförderung der Kinder, ums Singen, Tanzen, Musizieren. Und natürlich renne auch er im Kindergarten mit dem Wischmop herum. Warum auch nicht.

Die Dachdeckerin verdient 300 Euro mehr

"Ich möchte, dass jetzt alle Mädchen ihre Sessel zu den Tischen zurücktragen", ruft Fimberger in die lärmende Kinderschar hinein. Die Mädchen greifen sich die Sessel und schleppen sie quer durch den Raum zu den Basteltischen. Die Plätze können sie selber wählen, je nachdem, was sie spielen wollen und wie viel Platz sie dafür brauchen. Erst dann stellen die Buben ihre Sessel dazwischen.

Fimberger erzählt, dass es nicht reiche, den Kindern zu sagen, dass sie unabhängig vom Geschlecht "alles machen dürfen". Er will gezielt anregen, dass Mädchen werken und sich dafür Raum nehmen. Oder dass Buben kochen und Freude daran entwickeln. Wenn Mädchen nur mit Puppen spielen und Buben nur mit Werkzeug hantieren, würden Weichen gestellt. "Sollen Mädchen später nur aus zehn Lehrberufen wählen können?", fragt Fimberger. "Für die sie sich nur deshalb interessieren, weil sie nichts anderes kennen? Eine Dachdeckerin verdient schon im ersten Lehrjahr 300 Euro monatlich mehr als eine Frisörin!"

"Gutmenschenpädagogik"

Politisch korrekte Gleichmacherei, die den natürlichen Unterschied zwischen Buben und Mädchen ignoriere. Gutmenschenpädagogik für Bobokinder. Feministische Zwangsbeglückung, die Buben in Prinzessinnenkleider zwinge: Kritiker der geschlechtssensiblen Pädagogik reagieren verunsichert bis gehässig auf das Konzept. Sandra Haas kennt die Vorbehalte.

"Man wirft uns vor, dass wir Mädchen zu Buben und Buben zu Mädchen machen wollen", erzählt sie. "Dabei geht es nicht darum, den Kindern etwas wegzunehmen, sondern ihnen etwas Neues anzubieten. Ihnen die Freude an Fürsorge oder Technik zu vermitteln – unabhängig vom Geschlecht." Es gehe darum, Geschlechterklischees abzubauen und Rollenbilder zu hinterfragen, um den Handlungsspielraum der Kinder zu erweitern.

Skateboard fahren, Kuchen backen

Deshalb gibt es einmal in der Woche einen Mädchen- und Bubentag. Da werden die Kinder für ein paar Stunden nach dem Geschlecht voneinander getrennt. An solchen Tagen können die Mädchen etwa Skateboard fahren in den Park, und die Buben backen einen Kuchen. Die Mädchen lernen so, sich Raum zu nehmen, laut, fordernd und stolz auf ihre Leistungen zu sein. Buben lernen, emotional, fürsorglich und kreativ zu sein. Die Trennung nach Geschlechtern nehme den Kindern den Zwang, so zu sein, wie Mädchen und Buben in der Gesellschaft zu sein hätten, erklärt Sandra Haas.

Boys do cry

Doch wie erfolgreich sind diese Maßnahmen? Sandra Haas: "Die Mädchen bei uns sagen schon mal: Ich will Mechanikerin werden. Und wir haben Buben, die andere weinende Buben sehr fürsorglich trösten. Wir merken am Verhalten der Kinder ganz stark, dass Dinge übernommen werden."

Geschlechtergerechte Sprache, Kinderbücher mit Superheldinnen, weibliche und männliche Betreuer – auf allen Ebenen gehe es hier darum, den Handlungsspielraum der Kinder zu erweitern. "Wir wollen sie ermächtigen, ihre Wünsche und Befindlichkeiten auszudrücken und auszuleben", sagt Haas. "Selbstbestimmt zu leben abseits von Klischees, Stereotypen und gesellschaftlichen Vorstellungen davon, wie Frauen und Männer zu sein und was sie zu tun haben." Eigentlich ganz einfach. (Lisa Mayr, derStandard.at, 31.1.2013)