Johannes Kislinger über die Auswüchse des Föderalismus in Österreich: "Wenn man jemandem sagt, dass das WC im Burgenland anders auszusehen hat als in Vorarlberg, machen wir uns lächerlich." Die Föderalismus-Bestrebungen innerhalb der IG Passivhaus sind vorerst einmal eingebremst worden.

Foto: Putschögl

Irgendwann habe man in der IG Passivhaus "zu zählen aufgehört", wieviele Passivhäuser es in Österreich bereits gibt, sagt Obmann Johannes Kislinger im derStandard.at-Interview. Dass aber nicht alles, was als "Passivhaus" bezeichnet wird, auch tatsächlich eines ist, muss er "leider" einräumen - und gibt damit Martin Leitl recht, der kürzlich ebenfalls in einem derStandard.at-Interview sagte, dass "nach der reinen Lehre kaum gebaut wird". Zum von Leitl propagierten "Sonnenhaus"-Konzept will Kislinger "keine Konkurrenzsituation" sehen, es auch nicht "verteufeln"; dass er das Konzept mit den großen Wassertanks im Haus aber für "nicht intelligent genug, nicht effizient genug" hält, ist ihm dann doch zu entlocken.

Warum in der IG Passivhaus Österreich zuletzt eher die sieben regionalen Teilorganisationen das Zepter führten, nun aber wieder mit voller Kraft auch auf Bundesebene gearbeitet und lobbyiert werden soll, erklärt Kislinger im Gespräch mit Martin Putschögl.

derStandard.at: Herr Kislinger, in einem Rundmail an Ihre Mitglieder vor einigen Wochen betonten Sie, dass nun alle Landesorganisationen die IG Passivhaus Österreich wieder "professionell und schlagkräftig unterstützen" würden. Welche Probleme gab's denn davor?

Kislinger: Nun, ich würde das auf den in Österreich sehr verbreiteten Föderalismus-Gedanken zurückführen. Es gibt Bundesländer, die dachten, sie beschränken ihre Aktivitäten - aus Kostengründen - auf ihr Bundesland. Konkret war das in den letzten beiden Jahren das Thema. In einer Sitzung im vergangenen Mai wurde aber klar, dass es Agenden gibt, die man nur bundesweit angehen kann, Themen wie Qualitätssicherung, Weiterbildung und Lobbying.

derStandard.at: Ziehen nun also wieder alle an einem Strang?

Kislinger: Genau. Wir sind sieben Teilorganisationen, und von denen gab es im Mai ein einstimmiges Votum für die Stärkung der IG Passivhaus Österreich. Das ist ein eindeutiger Auftrag. Insbesondere die Qualitätssicherung wird künftig für uns ein großes Thema sein.

derStandard.at: Gab es aus Ihrer Sicht einen bestimmten Auslöser für die kurzzeitige "Wegbewegung" von der IG Passivhaus Österreich?

Kislinger: Wir sind eine Organisation mit 300 Mitgliedern. Da sind Industriebetriebe dabei, aber auch kleine Dienstleister. Das sind alles unterschiedliche handelnde Personen mit verschiedenen Sichtweisen, verschiedenen Befindlichkeiten. Dadurch wurde es immer schwieriger, zu formulieren, was eigentlich die Grundidee ist. Jetzt haben wir das neu definiert, indem wir gesagt haben: Wichtig ist, dass wir die Qualitätssicherung ganz oben hinschreiben. Das "Tagesgeschäft" wird jetzt außerdem über eine GmbH abgewickelt, die eine Tochter des Vereins IG Passivhaus Österreich ist. Hintergrund dafür war, dass wir doch eine Vielzahl an Forschungsprojekten betrieben haben, die über die gemeinnützige GmbH besser für das operative Geschäft verfügbar gemacht werden können.

derStandard.at: Wir haben kürzlich Martin Leitl interviewt, der sein "Sonnenhaus" als Alternativ-Konzept zum Passivhaus etablieren will. Was halten Sie davon?

Kislinger: Ich sehe keinen Widerspruch zu dem, was das Sonnenhaus versucht, und was wir machen. Als Architekt bin ich auch grundsätzlich unabhängig gegenüber den beiden Konzepten. Das Positive am Passivhaus ist: Hier wurde vor 20 Jahren von einem Physiker, nämlich Wolfgang Feist, bemerkt, dass es Gesetze der Thermodynamik gibt, und dass man deshalb die Physik ernsthaft in den Bau einfließen lassen muss. Ich möchte das durchaus mit den Entwicklungsschüben im 19. Jahrhundert, etwa mit der Erfindung des elektrischen Stroms, vergleichen. Das war auch eine echte Neuheit. Und aus einer dieser Neuheiten heraus ist das Passivhaus entstanden. Der Physiker Feist hat Energie, Thermodynamik und Bau verquickt. Daraus entstand ein technologischer Schub, den wir jetzt versuchen, umzusetzen.

derStandard.at: Für "Sonnenhaus"-Verfechter Leitl ist es denkbar, die beiden Konzepte zusammenzuführen. Wie stehen Sie dazu?

Kislinger: Alles, was nun an Technologien parallel dazu entwickelt wird, läuft unter der Voraussetzung, dass wir die Thermodynamik verstehen. Und wenn wir das ernstnehmen, wenn wir also sagen, wir wollen mit der Energie gut umgehen, dann ist das Passivhaus ein gutes Konzept dafür. Insofern kann ich es nicht tolerieren, wenn nun Gebäudekonzepte wie das "Sonnenhaus" entwickelt werden, die die Hülle als nicht so wichtig erachten.

derStandard.at: Immer wieder wird aber auch kritisiert, dass Passivhäuser bloß "Styropor-Schachteln" wären, dass also die bestmöglich wärmegedämmte Gebäudehülle nur mit gar nicht nachhaltigem Kunststoff erreicht wird. Was sagen Sie dazu?

Kislinger: Das hat mit dem Konzept selbst nichts zu tun. Wie wir das umsetzen, das bleibt jedem Einzelnen überlassen. Es gibt Leute, die eben gerne mit Kunststoffen arbeiten, andere mit nachwachsenden Rohstoffen. Ich persönlich bin überzeugt davon, dass es wichtig ist, mit nachwachsenden Rohstoffen zu operieren, weil man dann in weiterer Folge auch die Voraussetzungen für einen Rückbau, Stichwort Recycling, geschaffen hat. Genauso wie man aber mit der luftdichten Hülle auch die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, möglichst wenig Energie zu verbrauchen.

derStandard.at: Ist die Forcierung nachhaltiger Baumaterialien auch ein Thema in Ihren Bemühungen, was die angesprochene Qualitätssicherung betrifft?

Kislinger: Wie gesagt, das kann man entkoppeln. Das sind zwei verschiedene Themen.

derStandard.at: Manche Leute sehen das aber nicht so.

Kislinger: Das mag sein. Aber ob ich einen Ziegel verwende oder eine Holzriegelwand, das hat grundsätzlich mit dem Gebäudekonzept nichts zu tun. Insofern sehe ich auch in Leitls "Sonnenhaus" keine Konkurrenz, denn da versucht er ja das Gleiche. Er sagt auch, das Konzept soll helfen, Energie zu sparen, Emissionen zu reduzieren, die 2020-Ziele zu erreichen. Das ist kein Widerspruch. Wir haben viele Mitglieder, aber alle bezwecken das Ziel, Emissionen zu reduzieren. Das können wir festhalten. Der Weg dorthin ist aber unterschiedlich.

derStandard.at: Anders gefragt: Werden Sie als IG-Passivhaus-Obmann verstärkt darauf hinarbeiten, dass es zu einer Forcierung der nachwachsenden Rohstoffe und des ökologischen Bauens kommt?

Kislinger: Ich als Obmann werde mich natürlich auch dafür einsetzen, nachwachsende Rohstoffe zu forcieren. Als Architekt tue ich das ohnehin seit Beginn. Weil ich glaube, dass in einem weiteren Schritt, wenn die Lebenszyklusanalyse dazukommt, daran kein Weg mehr vorbei führt. "Life Cycle Analysis" - also die Bewertung "von der Wiege bis zur Bahre" oder auch "von der Wiege bis zur Wiege" - bedeutet, dass man sich auch anschaut, wie der einzelne Baustoff hergestellt wird etc. Hier kann sich auch die Industrie verstärkt einbringen.

derStandard.at: Wie unabhängig können Sie denn als Obmann eigentlich sein, wenn man in Betracht zieht, dass die IG Passivhaus unter anderen auch mit der "Gemeinschaft Dämmstoff-Industrie" (GDI) eine enge Partnerschaft hat?

Kislinger: Ich sag's nochmal: Die Frage ist, was man als Ziel vor Augen hat. Wir wollen das Kyoto-Ziel irgendwann doch noch möglich machen, wir wollen unabhängig von Importen werden. Die Wege sind mannigfaltig. Wir haben viele Mitglieder, die sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. Aber das Ziel ist ein eindeutiges, und das geht in eine Richtung.

derStandard.at: Und wie können Sie als Architekt die vorhin in den Raum gestellte "Äquidistanz" zu Sonnen- und Passivhaus halten, wenn Sie doch oberster Repräsentant der IG Passivhaus sind?

Kislinger: Diesbezüglich sehe ich da gar keine Konkurrenzsituation. Wir haben die "Initiative Sonnenhaus" zu Diskussionen eingeladen, die machen ihrerseits auch regelmäßig Veranstaltungen, wir tauschen uns also sehr intensiv aus. Geschäftsführer Peter Stockhauser war außerdem viele Jahre lang Mitglied bei uns. In Wirklichkeit stehen wir uns also nicht im Weg. Wir wollen nur eines: Wenn wir ein "Benchmarking" betreiben, also die Systeme vergleichen, dann wollen wir das wissenschaftlich angehen. Stets wird argumentiert, dass das Passivhaus nur mit Wärmepumpe und elektrischem Strom arbeitet. Wenn wir aber das Heizsystem freistellen und sagen, das Passivhaus verfolgt die Idee, die Hülle zu "ertüchtigen", dann ist das unabhängig von der Heizquelle, die da drinnen steht. Das ist ganz plausibel.

Mit dem "Passivhaus Projektierungs Paket" (PHPP) haben wir seit Jahren auch ein sehr intelligentes Produkt, mit dem alle möglichen Stromverbraucher - Haushaltsgeräte, Unterhaltungselektronik etc. - in die Kalkulation mit hereingenommen werden können. Denn diese sind ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Gebäudekonzepts. Ob wir jetzt aber Dämmstoffe an der Wand haben, die nachwachsend sind oder auch nicht - das kann ich austauschen. Das sage ich jetzt als Obmann.

derStandard.at: Unaufhaltsam scheint ja ohnehin der Weg zum "Plusenergiehaus" zu führen, also zum Gebäude, das mehr Energie erzeugt, als es verbraucht. Halten Sie die Bezeichnung "Passivhaus" überhaupt noch für adäquat?

Kislinger: Diese Diskussion haben wir intern natürlich. Für mich ist es aber müßig, darüber zu sprechen, denn der Begriff ist platziert, er hat seine Bedeutung.
Sehr wohl denken wir darüber nach, wie es weitergeht, und da gibt es die von Ihnen angesprochenen "Passivhaus-Plus"-Konzepte. Das Wichtigste für uns ist derzeit aber, den bisher erreichten Standard abzusichern. Sehr viele Passivhäuser in Österreich sind nämlich leider gar keine. Das sind nur deshalb Passivhäuser, weil sie es der Förderung nach sind oder weil sie sonst irgendwie unter der Bezeichnung "Passivhaus" verkauft wurden. Wir müssen zunächst sicherstellen, dass alle diese Häuser auch tatsächlich funktionieren.

derStandard.at: Von wievielen Häusern reden wir hier? Offiziell gibt es schon mehrere tausend Passivhäuser in Österreich, mit rund 15.000 Wohneinheiten.

Kislinger: Ich kann da keine Zahl nennen. Wir haben irgendwann zu zählen aufgehört, weil es eben schon so viele sind. Aber wir sind gerade an einer Mitgliederbefragung dran, um das zu quantifizieren. Um diese Absicherungen zu erreichen, wollen wir als IG Passivhaus künftig auch Zertifizierungen durchführen. Ich denke, dass unser Netzwerk das halbwegs garantieren kann. Ich sehe zumindest keine andere Instanz, die sich in Österreich dieses Themas annimmt.

derStandard.at: Woran liegt die Abweichung im Soll/Ist-Vergleich? Kann die Ausführung nicht mit der Planung Schritt halten?

Kislinger: Ja, dass es eine Divergenz zwischen Planung und Ausführung gibt, ist das eine. Das andere ist aber die oft sehr große Trägheit am Bau. Bei der Baustellenabwicklung kann noch sehr viel verbessert werden. Es kann nicht sein, dass eine Baustelle zwei Jahre lang vor sich hindümpelt. Da wird viel vergeudet, es werden viele Fehlerquellen eingebaut, und es sind vor allem viele verdeckte Mängel dabei. Ich "liebe" es ja, einen Elektriker zu sehen, der mit Genuss durch eine Wand bohrt, weil er da gerade irgendeinen Anschluss braucht und sich das nicht genauer überlegt, ob er da nicht eine luftdichte Hülle zerstört. Da sind oft noch immer Methoden aus dem 19. Jahrhundert vorherrschend. Das ist die Herausforderung: Dass alle, die an diesem Prozess beteiligt sind, wirklich begreifen, worum's geht. Und da haben wir noch viel zu tun. Da braucht's noch viele Schulungen.

derStandard.at: Noch kurz zur Politik: Die derzeit zunehmende Fokussierung auf die Gesamtenergieeffizienz scheint dem "Sonnenhaus"-Konzept entgegenzukommen. Was wird sich denn aus Ihrer Sicht für das Passivhaus ändern?

Kislinger: Ja, die OIB-Richtlinie 6 führt neue Begriffe wie Gesamt- und Endenergiebedarf ein, dadurch wird sich für uns einiges ändern. Es wird nicht mehr nur der Heizwärmebedarf sein, der wichtig ist, und das ist aus meiner Sicht als Architekt auch das Richtige. Wir müssen das gesamte System erfassen, dürfen nicht bei der Gebäudehülle stehenbleiben.

derStandard.at: Da stimmen Sie also mit Herrn Leitl völlig überein?

Kislinger: Ja, völlig. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage, dass wir das ganze System bis hin zur Siedlungsstruktur betrachten müssen. Genau das sieht die EU-Richtlinie ja vor, dass die Energie auf dem gesamten Grundstück zu betrachten ist. Hier kommt aber wieder das Passivhaus-Konzept gut ins Spiel: Denn wenn die Gebäudehülle dicht ist, kann man mit der reduzierten Heizwärme leichter operieren. Und die benötigte Restenergie lässt sich dann auch mit weniger Fläche hereinholen. Unsere leichte Kritik an dem Wassertank im "Sonnenhaus"-Konzept ist, dass das ein Medium ist, das nicht intelligent genug, nicht effizient genug ist. Es könnte besser sein. Aber ich möchte es nicht verteufeln.

derStandard.at: Aus Ihrer Sicht sollte also in Zukunft der Heizwärmebedarf genauso wichtig sein wie jetzt, aber mit Blick auf den Gesamtenergiebedarf?

Kislinger: Ja, genau so. Das ist gut formuliert. Man kann den Heizwärmebedarf nicht wegdiskutieren. Es wird ihn immer geben. Man muss auch dazu sagen: Die 120 KWh an Primärenergiebedarf, die das Passivhauskonzept derzeit noch akzeptiert, sind sehr hoch angesetzt. Da müssen wir herunterkommen. Den können wir locker um die Hälfte reduzieren, das ist schon jetzt möglich. Und wenn wir dann noch die Lebenszykluskosten mit hineinrechnen und die Gesamtenergieeffizienz betrachten, sind wir mit Leitl gar nicht so uneins. Wir müssen uns miteinander anschauen, mit welchen Heizquellen wir unsere Ziele erreichen. Ist Strom der Weisheit letzter Schluss? Hier hat sich das Passivhaus weiterzuentwickeln.

derStandard.at: Wie wird das denn nun umgesetzt in den einzelnen Bundesländern? Die neue Wohnbauförderung in Oberösterreich müssen Sie ja als einen Rückschritt ansehen.

Kislinger: Leitl hat völlig richtig gesagt: Es ist absolut notwendig, dass man da gemeinsam an einem Strang zieht. Mit unserem Föderalismus sind wir eine internationale Lachnummer. Ein Beispiel: Wir wollten die bundesweit unterschiedlichen Wohnbauförderungen in einem Online-Tool darstellen. Aber weil diese Förderungen so unglaublich unterschiedlich sind, haben wir das nicht geschafft.

Wenn man jemandem sagt, dass das WC im Burgenland anders auszusehen hat als in Vorarlberg, machen wir uns lächerlich. Ich habe das selbst erlebt im vergangenen Jahr, als mich in Alpbach ein Journalist aus Großbritannien ungläubig fragte, wie das denn nun wirklich sei. Das ist absolut nicht mehr zeitgemäß, da sind sich sämtliche Leute in der Branche vollkommen einig. Mit neun verschiedenen Wohnbauförderungen vergeuden wir Energie und öffentliche Gelder. Punkt.

Dazu kommt, dass die Wohnbauförderungen in Wirklichkeit ja alle pleite sind, oder zumindest sehr wenig Geld haben. Aber gerade deswegen müssen wir die wenigen vorhandenen Mittel gezielter, sinnvoller einsetzen. Auch hier gibt es Aufholbedarf. Da wurde ich ebenfalls schon einmal von einem Bekannten aus dem Ausland ungläubig gefragt: "Was, ihr kriegt eine Förderung, wenn ihr auf der grünen Wiese am Waldrand ein Haus baut? Das kriegt ihr bezahlt?" (Martin Putschögl, derStandard.at, 10.8.2012)