Wozu gab/gibt es die Europäische Einigung? Die Motivation dieses Prozesses entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte fort:

Zunächst ging es darum, die Feindschaften des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zu überwinden, besonders zwischen Deutschland und Frankreich. Dann trat die wirtschaftliche Entwicklung durch Abbau von Handelshemmnissen in den Vordergrund (immer mit dem Hintergedanken, dass die wirtschaftliche Einigung auch die politische fördern würde). In den 80er-Jahren ging es darum, Länder, die (Rechts-)Diktaturen abgeschüttelt hatten - Spanien, Portugal, Griechenland - aufzunehmen und so für die Demokratie "sicher zu machen". Um die Jahrtausendwende unternahm die EU eine gewaltige Doppelanstrengung: einerseits wurde in vielen Mitgliedsländern der Euro eingeführt. Die gemeinsame Währung sollte das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen endgültig fördern. Und es wurden fast alle Staaten des ehemaligen kommunistischen Osteuropa aufgenommen. Auch hier ging es darum, dadurch ein Europa zu schaffen, in dem ähnliche Standards an Wohlstand, Demokratie und Rechtsstaat herrschen.

Der Prozess ist nicht abgeschlossen. Der "Westbalkan" - Serbien, Montenegro, Albanien, Mazedonien, Bosnien - wartet noch auf die Aufnahme. Kroatien wird nächstes Jahr beitreten.

Das ist die raison d' être der Europäischen Union: Eine Zone des Wohlstandes, des Friedens, der Demokratie und des Rechtsstaates zu bilden. Einfach dadurch, dass die Kombination aus sozialer Marktwirtschaft und liberaler Demokratie auf alle, die dies wünschen und entsprechende Defizite haben, übertragen wird.

Bisher hat das recht gut funktioniert. Jetzt ist die EU aber in einer gewaltigen Krise. Das Modell der tieferen Integration durch die gemeinsame Währung ist in höchster Gefahr und damit auch die EU selbst. Der Euro ist in Ländern eingeführt worden, die keine Stabilitätskultur und zu wenig Wettbewerbsfähigkeit dafür haben. Diese Länder, und sei es auch nur das relativ unwichtige Griechenland, rauszuwerfen, würde auf Sicht die ganze Euro-Zone und möglicherweise auch die EU aufdröseln. Andererseits kann die Krise nicht mit Gelddrucken ohne Ende und der Aufforderung zu weiterem Schuldenmachen (und das wäre ein gegenseitiger Haftungsverbund) "gelöst" werden.

Nicht genug damit, auch die demokratische "Heilwirkung" der EU ist in Gefahr. In Ungarn und Rumänien findet jeweils eine kalte Machtergreifung autoritärer Kräfte statt, da von rechts, dort von (alt-)links. Zwei nicht unwichtige Mitgliedsländer, die auf antidemokratischem Retro-Kurs sind - das geht schon an den Kern des Selbstverständnisses in der EU.

Ein Scheitern der Idee der Europäischen Einigung ist (immer noch) nicht wahrscheinlich, aber nicht mehr ganz undenkbar. Bekämpft wird das derzeit mit Ad-hoc-Maßnahmen. Es besteht immer noch die Chance, dass die EU aus ihrer bisher stärksten (Doppel-)Krise herauskommt, aber sicher ist das nicht. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 8.8.2012)