Wien – Im März hat ein grausiger Fall von Selbstverstümmelung für Aufsehen gesorgt. Ein schon länger arbeitsloser Steirer schnitt sich mit einer Säge den linken Fuß ab. Der Auslöser: Der Mann aus dem Bezirk Feldbach war von der Pensionsversicherungsanstalt zu einer Gesundheitsuntersuchung zitiert worden, in deren Folge Arbeitsfähigkeit bzw. etwaige Pensionsansprüche geklärt werden sollten. Ein mit dem Fall betrauter Beamter sprach damals von einer "unglaublichen Verzweiflungstat" aus übertriebener Angst, einer, die ihm in seiner 40-jährigen Dienstzeit noch nicht untergekommen sei.

"Dass es eine verbreitete AMS-Brutalität gibt, die Existenzen gefährdet und auch zerstört, ist an sich bekannt", kommentierte ein Leser in einem Internetforum den Fall. "Na wenn sich der Gute für die angebotenen Jobs zu gut ist ...", stellte ein anderer ungerührt im virtuellen Raum zur Diskussion. Zwei Positionen, die gegensätzlicher nicht sein könnten und die Frage aufwerfen: Wie viel Aktivierung ist den Menschen zumutbar? Und noch viel wichtiger: Führt sie zum Erfolg, bringt sie die Betroffenen auf den Arbeitsmarkt zurück? Und wenn ja, um welchen Preis?

Aktivierung in die Prekarität

Glaubt man den Autoren eines eben erschienenen Buches, dann ist mit dieser Art von Politik kein Staat zu machen: "Aktivierung in die Prekarität?", lautet ihr ernüchternder Befund. Am Beispiel von Deutschland, Österreich, Polen, Großbritannien und der Schweiz kommen die Wissenschaftler Karin Scherschel, Peter Streckeisen und Manfred Krenn zu dem Schluss, dass in diesen fünf Ländern die aktivierende Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahre ihr Ziel verfehlt habe: Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und Sicherung der sozialen Teilhabe wurden demnach nicht erreicht. "Stattdessen haben die Aktivierungspolitiken zur Ausdehnung unsicherer und niedrig entlohnter Beschäftigung geführt: Sie vertiefen also gerade jene Verwerfungen, die sie zu bekämpfen suchen."

Keineswegs sei die These, jede Arbeit sei besser als keine, richtig. "Für jene Gruppen, die am Arbeitsmarkt ohnedies auf schwachen Beinen stehen, sei es mangels Ausbildung oder weil man zur gefährdeten Gruppe der Migranten oder zu den älteren Arbeitnehmern gehört, gilt vielmehr: Wer einmal tief unten ist, bleibt es in der Regel auch", sagt Manfred Krenn. Er schätzt, dass rund ein Drittel der Arbeitslosen zu diesem Segment zu rechnen ist. Mit allen negativen Folgen. "Im Gegensatz zu früher ist heute in diesem Segment der soziale Abstieg inbegriffen, und niemand schützt einen davor."

Soziale Frage kehrt zurück

Ausgangspunkt der Entstehung des Bandes war die europaweite Zunahme sozialer Verwerfungen und prekärer Arbeitsverhältnisse. Laut aktuellen Zahlen der Statistik Austria ist derzeit etwa ein Drittel (31 Prozent) der unselbstständig Erwerbstätigen in Österreich atypisch beschäftigt, das sind rund 1,1 Millionen Menschen. Jede zweite berufstätige Frau arbeitet Teilzeit, geringfügig, in Leiharbeit oder mit einem freien Dienstvertrag.

Bei den Männern haben 14 Prozent der Erwerbstätigen keine unbefristete Vollzeitanstellung. Atypische Beschäftigung findet sich in jeder Bildungskategorie. Bei Menschen mit Universitätsabschluss spielt Leiharbeit keine Rolle, sie stehen allerdings doppelt so oft in befristeten Arbeitsverhältnissen wie der Gesamtdurchschnitt der unselbstständig Beschäftigten.

Die "soziale Frage" kehrt für die Forscher also nicht umsonst in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und in wissenschaftliche Debatten zurück. Dafür mitverantwortlich: die Arbeitsmarktpolitik. Die Wurzeln für die gegenwärtige Misere liegen allerdings schon einige Jahrzehnte zurück. Lange Zeit wurde die zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit in einigen europäischen Wohlfahrtsstaaten mit passiven Maßnahmen "abgefedert": Ausdehnung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosenunterstützung – insbesondere für ältere Arbeitnehmer -, Ausweitung von Frühpensionierungsmöglichkeiten und staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Die heimische Politik geriet allerdings angesichts der wirtschaftlich schwieriger werdenden Lage – mit bekannten Randerscheinungen wie wachsenden Budgetproblemen und rasch steigender Arbeitslosigkeit – zunehmend unter Druck. 1980 waren etwas mehr als 50.000 Menschen arbeitslos gemeldet (entspricht einer Rate von 1,87 Prozent). Ab da ging es stetig aufwärts: 1986 lag die Zahl bei 151.000 oder 5,2 Prozent. 2005 waren 252.654 Menschen oder 7,25 Prozent ohne Job. Zuletzt lag die Zahl bei 285.899 Menschen.

In der Hängematte

Als die Arbeitslosigkeit stieg, kam es auch zu einem Paradigmenwechsel, der auf dem Glauben beruhte, dass bedingungslos gewährte staatliche Unterstützungsleistungen beim Empfänger zur Passivität führen. Arbeitslosigkeit wurde zunehmend als Folge fehlender bis mangelnder Arbeitsbereitschaft der Betroffenen interpretiert. Zu großzügig seien die Leistungen der Arbeitslosenversicherung, zu sehr seien die Vermittler bei den Arbeitsämtern auf die Zumutbarkeit von Jobs bedacht. Wohin das führt, ist in dieser Diktion klar: direkt ins süße Nichtstun, zum Leben als Sozialschmarotzer in der bequemen Hängematte des Sozialstaates.

Im Gegensatz dazu setzt die aktivierende Arbeitsmarktpolitik auf die Wiedereingliederung (Langzeit-)Arbeitsloser in den regulären Arbeitsmarkt – und das mit zunehmend unsanfterem Druck. Seit den 1980er Jahren wurde der Zugang zu den Leistungen und Ersatzleistungen aus der Arbeitslosenversicherung (ALV) sukzessive erschwert. Parallel dazu wurden seit den 1990 Jahren auch die Sanktionsmöglichkeiten – bis zur temporären Sperre des Entgeltbezugs – gegen Arbeitslosengeld- und Notstandhilfebezieher ausgebaut und ebenso wie die Zumutbarkeitsbestimmungen verschärft. Die Zahl der Sperren des Arbeitslosengeldes hat sich demnach zwischen 1990 und 2005 verfünffacht.

Wer einmal unten ist

Salopp zusammengefasst bringt das Anziehen all dieser Schrauben allerdings nicht das gewünschte Ergebnis. Grob gesprochen gilt: Jene, die am Arbeitsmarkt gebraucht werden, weil sie gut ausgebildet, im passenden Alter und für die nachfragenden Branchen qualifiziert sind, kommen ohnehin unter. Vermutlich ganz ohne Computerführerschein, Coaching und Co. Wer allerdings unter Druck in den Niedriglohnsektor gedrängt wird, hat gute Chancen, auch dort zu bleiben. "Gerade am Rücken der schwächsten Glieder nimmt die Aktivierungspolitik repressive Züge an, da es sich meist um eine Aktivierung ohne Arbeit bzw. eine Vermittlung in prekäre Beschäftigungsverhältnisse handelt", so Krenn. Eine Trendwende ist nach seiner Ansicht derzeit eher nicht in Sicht, ganz im Gegenteil: "In der jüngsten Krise hat sich die Segmentierung zwischen schwachen Gruppen und stärkeren weiter verschärft." (Text: Regina Bruckner, Grafik: Florian Gossy, derStandard.at, 8.8.2012)