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Istanbul: Die Silhouetten der Sultan-Ahmed-Moschee und der Hagia Sophia.

Foto: File/AP/dapd

Vor ein paar Wochen im Kreml war es, als Tayyip Erdogan einen kleinen Scherz machte, der zeigte, wie verfahren in Wahrheit die türkisch-europäischen Beziehungen sind. "Sie ziehen uns auf und fragen: 'Was wollen Sie eigentlich in der EU?'", sagte er, an den russischen Präsidenten Wladimir Putin gerichtet. "Jetzt frotzle ich Sie: Nehmen Sie uns in die Schanghai-5-Organisation auf, und wir werden die EU gleich vergessen."

So vollkommen abwegig ist die Idee nicht, dass der türkische Regierungschef sein Land auch in der asiatischen Konkurrenzorganisation (Russland, China, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan) platzieren könnte; schließlich kommen die Türken aus Zen-tralasien. Doch es sind jahrelanger Stillstand und Frustration in den Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU, die den Raum für Zweifel geschaffen haben und jetzt, inmitten der europäischen Schuldenkrise, die Türken den Sinn der ganzen Unternehmung infrage stellen lassen.

Festung Türkei

Während Europa schon wieder in die Rezession stolpert, wächst die türkische Wirtschaft weiter. Langsamer sicherlich, vielleicht nur um 3,5 Prozent in diesem Jahr nach 8,5 im vergangenen. Doch den Türken scheint sie stabil.

Seyfeddin Cabuga, ein Doktorand an der Istanbuler Bilgi-Universität, der Europa und den Beitrittsprozess unterrichtet, hört in Schulklassen und Seminaren mittlerweile bohrende Fragen: "Wozu brauchen wir die EU? Sie sind in einer Wirtschaftskrise. Wir sind Muslime, sie sind ein Christenklub, sie wollen uns nicht. Warum brauchen wir die EU, um unsere Menschenrechtslage zu verbessern? Wir können es selbst tun." Die EU werde nun als eine die Einheit zerstörende Kraft gesehen, sagt Cabuga, als etwas, das die Türkei am Ende mit einer Menge von Minderheiten und neuen Rechten dastehen lässt - Kurden, Türken, Aleviten, Sunniten. Nichts, was türkische Nationalisten wollen.

Von 90 Prozent vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 ist der Anteil der Türken, die dem Beitritt zustimmen, auf unter 50 Prozent gefallen. Scheitern ist mittlerweile einkalkuliert, die Schuld tragen die Europäer. "Wenn sie am Schluss der Verhandlungen sagen, ihr habt eine hohe Geburtenrate und ihr seid ein islamisches Land, dann ist es für die Türkei auch nicht das Ende der Welt", meinte selbstbewusst Hüseyin Çelik, stellvertretender Vorsitzender der Regierungspartei, in einem Gespräch mit ausländischen Journalisten in Ankara.

"Positive Agenda"

Vergangenen Mai startete Erweiterungskommissar Štefan Füle eine diplomatische Initiative. Die "positive Agenda" nannte er sie. Den Beitrittsprozess der Türkei sollte sie mit konkreten Projekten "am Leben halten und nach einer Periode der Stagnation zurück auf den Weg bringen". Der mittlerweile vereinbarte Fahrplan für die Visa-Liberalisierung gilt als erster Erfolg. Europaminister Egemen Bagis hat sie zur Prinzipienfrage erhoben. Längst geht es nicht mehr um die Abarbeitung von Verhandlungskapiteln. Ankara will die Anerkennung als Regionalmacht, Respekt vor ihren Bürgern, die Europa Jahrzehnte hindurch nur als Gastarbeiter kannte.

Doch die Sackgasse bleibt. Jeder Schritt in der Zypernfrage auf die EU zu wird in der Bevölkerung als unnötiges Zugeständnis gesehen. Leute wie Kemal Dervis, der Finanzminister, der die Türkei aus der Bankenkrise von 2000 führte, denken mittlerweile weiter. Er sieht als realistische Alternative zum normalen EU-Beitritt nicht die "privilegierte Partnerschaft außerhalb der EU", sondern ein "besonderes Verhältnis" der Türkei innerhalb der Union. Es klingt zumindest besser.

Auch Tayyip Erdogan hat sich weiterbewegt. In den ersten Regierungsjahren habe seine konservativ-muslimische AKP eine Art "externe Legitimierung" gebraucht, um säkulare Schichten im Land hinter sich zu bringen und Reformen durchzusetzen, meint Senem Düzgit, Politologin an der Bilgi-Universität. Mittlerweile ist der Kampf gegen die Armee gewonnen, die "Ära Erdogan" ein Begriff für politische Stabilität und wirtschaftlichen Erfolg geworden. Erdogan bereitet schon seine zweite Phase an der Macht vor - als Staatschef der Türkei ab 2014. Die EU braucht er nicht wirklich. Andersherum, so sieht es die Führung in Ankara, macht es schon sehr viel mehr Sinn. (Markus Bernath, DER STANDARD, 6.8.2012)