"Man kann auch ein guter Komponist sein, wenn man weiß, wie man eine Glühbirne einschraubt."

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Johannes Kretz unterrichtet Computermusik und Musiktheorie an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. Er kennt die Vorteile einer kleinen Universität und hält engen Kontakt zu seinen maximal 15 Studierenden: "Manchmal habe ich eine beinahe therapeutische Funktion. Wenn jemand in einer Schaffenskrise steckt, ist das oft auch verbunden mit einer Lebenskrise."

Kretz ist auch Performer und trotz vieler Kritiker ein Verfechter computerunterstützten Komponierens: "Ich finde nichts Böses daran, wenn man versucht, einen Teil des Ästhetischen auch rational zu verstehen." Was er in dieser Hinsicht in Paris gelernt hat, warum er seine Leidenschaft für Mathematik auch in der Musik brauchen kann und wieso bald noch mehr DJs an der Musik-Uni studieren könnten, sagt er im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Wie kommt man dazu, Komponist zu werden?

Kretz: Ich habe schon als Kind - wenn meine Mutter oder mein Bruder gesungen haben - eine zweite Stimme dazugesungen. Ich habe am Klavier herumgeklimpert und Melodien aus dem Fernsehen nachgespielt. Es war für mich immer ganz natürlich, Musik nicht nur zu konsumieren, sondern mir auch aktiv etwas auszudenken. Ab meinem vierten Lebensjahr habe ich Violine studiert. Mit 18 habe ich bemerkt, der sportliche Perfektionscharakter des Geigespielens ist nicht so das meine. Der Inhalt der Musik hat mich aber immer sehr interessiert. Da habe ich beschlossen, Komposition zu studieren.

derStandard.at: Die Aufnahmeprüfung hat gleich geklappt?

Kretz: Ja.

derStandard.at: Im Unterschied zu anderen Universitäten gibt es an Ihrer Uni eine Aufnahmeprüfung. Finden Sie das gut?

Kretz: Oh, das ist ein heißes Eisen. Wir sind am Institut gerade mitten in einem Diskussionsprozess, wie der erste Studienabschnitt und die Aufnahmeprüfungen reformiert werden sollen. Das ist noch nicht ganz ausgegoren, aber es gibt natürlich verschiedene Grundhaltungen. Bei uns ist es bisher so, dass wir sagen, man muss gewisse Voraussetzungen mitbringen hinsichtlich Gehörbildung oder Tonvorstellung.

Normale Leute können lesen, ohne zu sprechen, sie können ein Buch stumm lesen. Als Komponist braucht man eigentlich das Gleiche mit Notenschrift. Beim Lesen muss die Musik im inneren Ohr klingen können. Das ist eine der großen Hürden. Wir verlangen ein hohes Niveau im Notenlesen - dazu kommt, dass man etwas Gehörtes aufschreiben können muss. Da muss ein starkes Talent da sein, weil es sonst schwierig ist - gerade im Bereich der Vokal-/Instrumentalkomposition.

Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es in der Elektronik auch andere Konzepte als Tonhöhen und Rhythmen gibt: Klangtexturen, Soundeigenschaften. Wir diskutieren, wie man dem auch gerecht werden kann. Dass also jemand, der extrem kreativ ist, aber von der Soundwelt herkommt und nicht von der Tonhöhen-Rhythmus-Welt, auch eine Chance hat.

derStandard.at: Da braucht man dann gar nicht mehr Notenlesen können, oder wie?

Kretz: Zum Beispiel. Man kann vielleicht ein bisschen Noten lesen, aber nicht so, dass man gleich mitschreiben kann, wenn einem ein kompliziertes Stück am Klavier vorgespielt wird. Bisher war die Aufnahmeprüfung sehr an klassischen Konzepten orientiert. Wir werden sehen, was da herauskommt, es gibt natürlich verschiedene Standpunkte.

derStandard.at: Haben Kunst- und Musikuniversitäten Ihrer Ansicht nach eine privilegierte Rolle in der österreichischen Universitätslandschaft?

Kretz: Musik- und andere Kunstausbildungen sind etwas anderes als beispielsweise eine Wirtschaftsausbildung. Warum vergleicht man das überhaupt? Künstler sind weniger austauschbar. Es ist leichter, in einer großen Firma in einer Managementposition statt dem Herrn X die Frau Y hineinzusetzen. Es ist aber relativ schwierig, Künstler auszutauschen. Man merkt es dann, wenn jemand eine Oper komponiert hat und gestorben ist. Jemand anderer versucht dann meist, diese fertig zu schreiben, das ist aber wahnsinnig schwierig. Die Individualität ist bei Künstlern sehr viel größer.

derStandard.at: Sie unterrichten die Fächer Computermusik und Musiktheorie. Wie kann man sich das Studium der Komposition vorstellen?

Kretz: Es gibt einen ersten Studienabschnitt, der heißt Komposition. Später spaltet sich das auf in drei Zweige: elektroakustische Komposition, instrumental-vokale Komposition und Medienmusik. Bei Letzterem geht es in Richtung Medien- und Filmmusik.

Ich betreue im zweiten Studienabschnitt Leute, die sich auf elektroakustische Komposition spezialisieren. Es gibt zwei zentrale künstlerische Fächer. Das eine ist Komposition, das andere - mein Fach - heißt "Musik und Computer". Da geht es mehr um die handwerklichen Aspekte. Wie verwende ich den Computer, um meine ästhetischen Visionen umzusetzen? Welche Programme gibt es? Das fängt  beim Benutzen von Aufnahme- oder Schnittprogrammen an und geht bis zum Programmieren und Erfinden neuer Klangeffekte.

derStandard.at: Da schaden Informatikkenntnisse sicher auch nicht.

Kretz: Ja. Wir verwenden allerdings meistens weniger klassische Programmiersprachen, wo man Code schreiben muss. Sondern es sind grafische Programmieroberflächen, wo man Objekte hat; diese bekommen Parameter und werden durch virtuelle Kabel miteinander verbunden. Das ist ein relativ intuitives Programmieren. Die Computerprogramme sind hier schon viel benutzerfreundlicher geworden.

derStandard.at: Für wie viele Studenten sind Sie zuständig?

Kretz: Wir haben fünf Kompositionsprofessoren, die haben jeweils zwölf bis 15 Studenten pro Professor. Momentan sind es bei mir sogar ein bisschen weniger. Das schwankt immer in einem gewissen Rahmen. Es gibt so Wellen. Vor einiger Zeit gab es zahlreiche ungarische Studierende am Institut, einmal eine Welle aus Taiwan.

derStandard.at: Woher kommt das, dass so viele internationale Studierende an der Musik-Uni sind?

Kretz: Wien ist als Musikstadt attraktiv. Unsere Uni ist die größte in Europa, wenn nicht überhaupt weltweit, was Musik betrifft. Das ist schon attraktiv, wenn man weiß, da gibt es viele Lehrer und viele Möglichkeiten. 

Wir merken allerdings, dass ein gesellschaftlicher Wandel stattfindet. Die Leute, die aus der Hausmusik kommen, aus dem Instrumentalspiel zu Hause, werden weniger. Also Leute, die schon als Kinder Klavier gespielt haben. Das merken wir gerade in Österreich, aber auch international. Dafür nimmt die Zahl jener, die einen Hobby-DJ-Background haben oder sogar schon in Clubs auflegen, zu. Unsere Herausforderung ist es, darauf zu reagieren. Sehen wir uns als Bollwerk der Tradition oder versuchen wir zumindest teilweise auch auf gesellschaftliche Veränderungen einzugehen? Das ist sehr spannend.

derStandard.at: Heißt das, das Niveau ist gesunken?

Kretz: Gesunken im klassischen Sinne. Ich würde es eher als Verschiebung bezeichnen. Die Voraussetzungen in klassischem Musikverständnis sind vielleicht ein bisschen schwächer geworden. Aber es kommen immer noch genug nach, vor allem international. Wir haben kein Problem, unsere Klassen voll zu bekommen.

derStandard.at: Sie unterrichten maximal 15 Studenten. Können Sie sich vorstellen, an einer Massenuni zu unterrichten?

Kretz: Das funktioniert in der Musik nicht. Die künstlerische Arbeit ist etwas sehr Persönliches, auch bei der Arbeit mit Computern. Ich kann nicht jeden Studierenden über den gleichen Kamm scheren. Sie kommen mit individuellen Visionen und Ideen. Der eine vertieft sich mehr in eine bestimmte Software, der andere arbeitet mit fix aufgenommenen Klängen, die in den Raum projiziert werden. Dann gibt es welche, die arbeiten lieber mit Live-Elektronik und sind dann so eine Art improvisierende Performer auf der Bühne. Das sind sehr unterschiedliche Profile. Jeder Komponist, jede Komponistin muss ja unverwechselbar werden. Auf dem Markt muss man sich präsentieren mit: Ich mache etwas, das sonst keiner macht.

Wenn ich alle durch Vorlesungen mit hunderten Studierenden durchschleusen würde, entwickeln sie ihre Individualität nicht so sehr. Der Einzelunterricht kann natürlich extrem persönlich werden. Manchmal habe ich eine beinahe therapeutische Funktion. Wenn jemand in einer Schaffenskrise steckt, ist das oft auch verbunden mit einer Lebenskrise. Das geht sehr ins Persönliche, fast Private.

derStandard.at: Wie definieren Sie Ihre Rolle als Lehrender?

Kretz: Ich bin so etwas wie der Anwalt eines potenziellen Publikums. Ich stelle zum Beispiel die Frage: Verstehen andere Menschen das auch, was der- oder diejenige gerade ausdrücken will?

derStandard.at: Ist es schwierig für die Studierenden, nach dem Studium Fuß zu fassen beziehungsweise von ihrer Kunst zu leben?

Kretz: Das eine ist, in die Szene hineinzukommen, das andere ist das Geld. In die Szene hineinzukommen geht schon. Man darf halt nicht nur zu Hause sitzen und warten, bis das Telefon läutet und man entdeckt wird. Leute mit so einer Haltung sind grundsätzlich deprimiert. Was ich meinen Studierenden zu vermitteln versuche, ist: Ihr müsst selber aktiv sein. Gründet eine Gruppe, organisiert euch einen Saal, macht irgendwas. Das Tolle in Wien ist, dass es so viele kreative Leute gibt. Man findet immer jemanden, der Lust hat, mit einem etwas Spannendes zu machen.

derStandard.at: Und verdient man dann auch genug?

Kretz: Es gibt in ganz Österreich vielleicht eine Handvoll KomponistInnen auf dem Gebiet der "E-Musik", die davon leben können. Das ist meistens mit viel Selbstausbeutung verbunden. Wenn man eine große Familie zu ernähren hat, dann ist das grenzwertig. Die meisten haben noch einen zweiten Job, so wie ich selber auch. Ich unterrichte.

Was ganz gut funktioniert, ist, wenn man nicht nur Komponist, sondern auch Performer ist. Um allein von den Tantiemen zu leben, da müsste ein Stück schon sehr, sehr oft gespielt werden. Nachdem die "ernste Musik" keine Massenware ist, ist es selten der Fall, dass ein Stück so viele hundert Mal gespielt wird, dass genug Erträge hereinkommen. Es ist ein Vorteil, wenn man Elektronik-Performer ist. Dann kriegt man für jeden Abend auch eine Gage. Ich zum Beispiel mache das sehr gerne.

derStandard.at: Waren Sie immer in Wien oder haben Sie auch international Erfahrung gesammelt?

Kretz: Als ich studiert habe, war die Elektronik noch in den Anfängen. Computer konnten noch weniger als heute ein Handy. Ich habe dann 1992/93 ein Jahr lang in Paris gelebt und dort studiert, am IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, Anm.). Ich habe in Paris die Computermusik in mich hineingefressen, habe dort wahnsinnig viel gelernt: Programmieren, Akustik, künstliche Intelligenz und die ganzen mathematischen Grundlagen.

Ich habe ja auch in Wien Mathematik studiert, das war mein Plan B. Wenn ich mit der Komposition nicht überleben hätte können, hätte ich zumindest Musik und Mathematik in einem Gymnasium unterrichten können.

derStandard.at: Man hört das immer wieder, dass Mathematik und Musik verwandt sind. Warum ist das so?

Kretz: Es gibt eine Schnittmenge, es ist beides ein Denken, das nicht verbal funktioniert, sondern in einer Art Formalismus. Man denkt sozusagen in einer anderen, nichtverbalen Sprache. Es gibt auch in der Mathematik ein Gefühl für die Schönheit einer Vorgangsweise oder Beweisführung. Möglicherweise ist ein anderer Gehirnteil als das Sprachzentrum damit beschäftigt.

derStandard.at: Was ist Ihr Forschungsgebiet?

Kretz: Wenn man mit dem Computer etwas Neues machen will, ist immer ein bisschen Forschung dabei, wenn man darüber hinausgeht, dass man eine Software nur benützt und das tut, was einem der Computer oder die Software vorgibt. Man kann einen Schritt weitergehen und sagen, ich will eine Wirkung erzielen, die mir existierende Software nicht anbietet. Ich muss also irgendwas erfinden.

Ich habe eine Software entwickelt, die heißt Klangpilot. Man schreibt damit keine Töne, sondern gestaltet Klänge, die man auch grafisch sehen kann. Jedes Detail des Klanges wird gezeichnet. Der Klangpilot funktioniert ein bisschen wie der Autopilot bei einem Flugzeug. Man hat eine Steueroberfläche, um in der Landschaft der Klänge zu navigieren.

Ein anderer Bereich ist das computerunterstützte Komponieren. Das hatte lange Zeit einen schlechten Ruf, weil der Verdacht für viele nahe liegt, dass die Maschine den kreativen Prozess ersetzt. Mittlerweile sind diese Werkzeuge aber viel reifer und klüger geworden. 

derStandard.at: Gibt es Gegner der Computermusik?

Kretz: Ja, sicher. Menschen haben verschiedene ästhetische Prämissen. Ich persönlich finde nichts Böses daran, wenn man versucht, einen Teil des Ästhetischen auch rational zu verstehen, sich selbst zu analysieren und Regeln zu entdecken. Ich finde, das tut der Qualität von Musik keinen Abbruch. Aber gerade in Österreich ist das oft anders. Wenn ich ganz böse bin, würde ich sagen: Die Aufklärung ist in diesem Land nie in voller Wucht angekommen. Das merkt man auch in der Musik. Die Leute haben eine gewisse Scheu davor, rational über das zu sprechen, was sie tun. Weil sie das Gefühl haben, dass der Mythos zerstört wird.

In Paris habe ich genau das Gegenteil erlebt. Dort können die Musiker ganz genau erklären, was sie wie warum machen. In Wien hört man lapidar: Man muss es fühlen. Ich bin der Meinung, man kann auch ein guter Komponist sein, wenn man weiß, wie man eine Glühbirne einschraubt. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 6.8.2012)