Nach den Aufwärmübungen auf dem Abreiteplatz nahm sie ihren Helm ab, dann setzte sie ihren Zylinder auf und ritt ins olympische Viereck. Als Victoria Max-Theurer zurückkam, freute sie sich über Rang 17 und die Qualifikation für den Grand Prix Special am Dienstag. Sie stieg von ihrem Pferd Augustin, nahm den Zylinder ab, setzte eine Kappe auf. Die Kappe trägt sie, wenn sie zu Fuß unterwegs ist. Früher hat sie auch mit Kappe trainiert. Früher, das war vor dem 3. März 2010.

Manchmal muss erst etwas passieren, damit etwas passiert. Am 3. März 2010 ist die US-amerikanische Dressurreiterin Courtney King-Dye beim Palm Beach Derby in Florida schwer zu Sturz gekommen. Der Unfall passierte nicht im Turnierviereck, sondern auf dem Abreiteplatz, King-Dyes Pferd rutschte aus, sie trug keinen Helm. Einen Monat lang lag sie im künstlichen Koma, und noch immer leidet sie an den Folgen der Schädelhirnverletzungen, die sie erlitten hat.

King-Dye war in ih rem Sport eine recht große Nummer gewesen, Mitglied der Olympia-Equipe 2008 in Peking. Vier Jahre später geht es in London um Medaillen, seit Donnerstag läuft die Dressur, und im Gegensatz zu Peking sieht man zumindest auf den Trainings- und Abreiteplätzen viele behelmte Reiterinnen und Reiter.

Bald könnte selbst der Zylinder, der in Prüfungen mit dem Frack zu kombinieren war (Ausnahme: Uniform), auf dem Nagel hängen. U-18-Reiter müssen bereits jetzt Helme tragen, U-6-Pferde dürfen nur von Helmträgern bewegt werden. Eine allgemeine Helmpflicht bei Events des Weltverbands (FEI) ab 2013 gilt als beschlossene Sache. Der US-Verband hat ähnliche Regeln 2011 eingeführt. Andere nationale Verbände sollen folgen, damit auch kleinere Turniere sicherer werden.

Ein Appell per Video

Reiten ist prinzipiell nicht der ungefährlichste Sport, es passiert mehr als im Tennis oder Rudern. Der Freizeitbereich ist hauptbetroffen, der Spitzensport bleibt nicht verschont. Courtney King-Dye hat einiges bewirkt, durch ihren Unfall und mit einem Video-Appell im Internet. Man sieht, wie ihr das Reden schwerfällt, wie sie sich konzentrieren muss. Sie wünscht sich, sagt sie, dass ihr Schicksal "auch einen positiven Effekt hat", nämlich jenen, dass vielen schweren Kopfverletzungen künftig durch Helmtragen vorgebeugt wird.

Es gibt nun einen jährlichen "Helmet Awareness Day", es gibt die Kampagne riders4helmets mit eigener Homepage. Immer mehr Reitstars sind sich ihrer Vorbildwirkung bewusst. Von Amerika ging die Bewegung aus, in Europa setzt sie sich fort. Max-Theurer sowie Charlotte Dujardin, Mitglied des britischen Olympiateams, und die Deutsche Isabell Werth, fünfmal Olympiasiegerin, aber für London nicht qualifiziert, sehen sich in der Vorreiterrolle. Werth sagt, sie habe "eine Verantwortung als Athletin in der Öffentlichkeit, als Mutter und gegenüber meinen Mitarbeitern".

Die FEI hat - manche meinen: spät - die Zeichen der Zeit erkannt. Hut ab vor den Helmträgern, so lautet quasi das Motto. Der Industrie kommt der Trend wie gerufen, Trends lassen die Kassen klingeln. Firmen wie Uvex und Cas co stellen modisch flotte und vor allem leichte Helme her, die aber sehr wohl den strengen Sicherheitsstandards entsprechen. Unglücklich sind allein die Zylinderhersteller, die mit einer Art Sicherheitszylinder kontern wollen.

Elisabeth Max-Theurer, die Olympiasiegerin 1980, die Verbandspräsidentin Österreichs und Victorias Mutter ist, begrüßt die allgemeine Tendenz. "Spitzenreiter müssen Vorbilder sein." Ihre Tochter sei im Training seit Jahren stets mit Helm unterwegs, schließlich sei selbst das trittsicherste Pferd nicht vor einem Stolperer gefeit. "Und die gefährlichsten Stürze sind schließlich solche, bei denen das Pferd mitfällt."

Auf Bikes und Brettern

In den meisten Vereinen herrscht ohnedies Helmpflicht. Ob jemand privat baren Hauptes mit seinem Pferd ins Viereck, auf den Springplatz oder ins Gemüse geht, also ausreitet, lässt sich kaum überprüfen. Das ist der große Unterschied zum Motorradfahren, das in Österreich seit 1979 nur mit Helm erlaubt ist. Sonstige Helmpflichten betreffen vor allem Kinder, siehe Fahrradfahren (bis 12 Jahre) oder Skipiste (bis 15 Jahre). Wer weiß, vielleicht setzt sich bald auch der legendäre ORF-Helmi ("Augen auf, Ohren auf, Helmi ist da") fürs Helmtragen beim Reiten ein.

Was Dressurprüfungen angeht, ist sich Verbandspräsidentin Max-Theurer nicht sicher, da sehe der Helm zum Frack "doch einigermaßen ungewohnt aus". Speziell bei älteren Reitern sei viel Überzeugungsarbeit nötig. "Mein Mann und ich, wir reiten noch immer ohne Helm", gesteht Max-Theurer. Immerhin weiß sie: "Es ist unvernünftig." Und zwar nicht erst seit dem 3. März 2010. (Fritz Neumann aus London, DER STANDARD, 4.8.2012)