Der überschießende Eifer, mit dem hierzulande zum Kreuzzug wider die Beschneidung aufgerufen wird, deutet darauf hin, dass die österreichische Seele endlich wieder ein Thema gefunden hat, bei dem sie sich in der Gewissheit wiegen kann: Schuld sind die Juden. Juristen fordern Rechtssicherheit, die auf anderen Gebieten wesentlich dringender geboten wäre, Ärzte schlagen Alarm wegen Körperverletzung, als wäre ein Eingriff am offenen Herzen, was ein Einschnitt bei offener Windel ist. Österreich stünde in der Welt und in der Geschichte anders da, hätte diese Begeisterung für das leiblich-seelische Wohl jüdischer Kinder hundert Jahre früher eingesetzt und nicht jetzt in einer Form, in der jüdische Eltern als Feinde der körperlichen Integrität ihres männlichen Nachwuchses erscheinen sollen.

Die Forderung der Religionsvertreter nach einem "klaren Bekenntnis" der Regierung zur Beschneidung ist so überflüssig wie die Debatte. Der österreichische Staat hat Judentum und Islam vor ziemlich geraumer Zeit als Religionen anerkannt, nicht in Kenntnis all ihrer Mysterien, aber ganz sicher im Wissen, dass deren Anhänger den Brauch der Beschneidung Neugeborener beziehungsweise Unmündiger pflegen. Er galt nie als strafrechtlicher Tatbestand, und da sich an den Voraussetzungen der Anerkennung nichts geändert hat, gibt es auch keinen Grund, ihn mutwillig als Körperverletzung zu kriminalisieren, mag er medizinisch betrachtet auch eine solche sein. Schon gar nicht sollte man leichtsinnig die Regierung hineinziehen. Erfahrung lehrt: Wenn die Anlauf zu einem klaren Bekenntnis nimmt, weiß man in Österreich nie, was herauskommt.

Der Geruch der Heuchelei, der dieser plötzlichen Erregung anhaftet, wird vor dem historischen Hintergrund nur strenger. Die Leiden, die ein paar tausend Jahre Beschneidung, wenn überhaupt erkennbar, gestiftet haben könnten, stehen in keinem Verhältnis zu denen, die allein zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft über die Juden gebracht haben, in denen ein jahrhundertelang gepflegter Antisemitismus in den Rang einer mörderischen Staatsmaxime erhoben wurde. Die Empfindlichkeit, mit der nun auf Körperverletzung plädiert wird, hätte man sich damals gegenüber Massenmord gewünscht. Aber ordentliche Beschäftigungspolitik entschuldigt diese kleine Trübung des Blicks für viele noch heute.

Für die einen sind die Forderer eines Beschneidungsverbotes "Antisemiten reinsten Wassers" (Rudolf Taschner in der "Presse"), für die anderen wahre Kinderfreunde. Da wird man auch nicht recht froh, wenn sich ausgerechnet Funktionäre des Christentums mit den Juden solidarisch erklären. Kindesmissbrauch, der oft weit schwerere Verletzungen zurücklässt als eine Beschneidung, haben sie geduldet, geleugnet, und so lange wie möglich gegen seine Aufklärung gemauert. - Falsche Gesellschaft.

Da niemand gezwungen ist, Beschneidungen vorzunehmen, besteht weder Handlungsbedarf noch einer an Ratschlägen. Darf man Juden Ezzes geben?, fragt ein kürzlich erschienenes Buch. Nicht ungefragt, nicht von außen, und schon gar nicht in Österreich. (Günter Traxler, DER STANDARD, 3.8.2012)