In letzter Zeit rumort es in den Foren und an den Stammtischen des Landes, denn es finden sich immer mehr Erleuchtete, die den wahren Grund der Finanzkrise zu kennen glauben.

Reiche immer reicher und Normalbürger immer ärmer?

Es wird eifrig gebloggt, getwittert, gepostet, Bücher verteilt und Videos zitiert, um dem staunenden Volk die Augen zu öffnen. Meistens bemüht man dabei Quellen, die von einer zentralen Annahme ausgehen: Das verzinste Kreditsystem der Finanzelite ist eine globale Verschwörung, die Reiche immer reicher und Normalbürger immer ärmer macht.

Das gelingt, indem Banken mittels Vergabe von Krediten und den darauf erhobenen Zinsen Geld aus dem Nichts erschaffen. Da dieses Geld nicht oder nur zu geringen Teilen real existiert, wird der Großteil der Menschen bei den Banken immer in der Kreide stehen, da stets weniger Geld im Umlauf ist, als für die ausstehenden Schulden erforderlich wäre. Während die "Bankster" also Geld erfinden, muss der fleißige Bürger die an ihn verliehene Summe mit realen Leistungen erarbeiten und bezahlt dafür auch noch Zinsen. Wenn etwas schiefgeht und der Kredit nicht mehr abbezahlt werden kann, pfändet die Bank einfach Haus und Hof und erhält somit bei minimalem Risiko reale Güter, während der Kreditnehmer bloß Geld aus dem Nirwana bekommt.

Das alles ist natürlich ein von langer Hand geplanter Meistercoup, bei dem Superreiche und Banken stets die Gewinner sind und das Volk kontinuierlich enteignet wird. So weit, so apokalyptisch.

Verzerrtes Bild des Systems

Ohne Zweifel hat diese stringente und logisch klingende Theorie einen gewissen Charme, sie greift aber durch ihre Simplizität viel zu kurz und skizziert ein völlig verzerrtes Bild eines Systems, das sich in jedem Kulturraum als zentraler Eckpfeiler moderner Zivilisationen bewährt hat.

Kredite ermöglichen es uns, zu einem Zeitpunkt an Geld zu kommen, an dem wir dieses nicht besitzen, aber brauchen. Egal, ob sich ein junges Paar ein angemessenes Umfeld zur Familiengründung schaffen will oder ob eine Firma Kapital für neue Investitionen braucht: Entscheidend dabei ist, dass das Geld in dieser Situation gebraucht wird und nicht erst 20 Jahre später.

Der Zins für das geliehene Geld ist der Preis, den man für den vorgezogenen Konsum bezahlen muss. Gäbe es keinen Zins, aus welchen Gründen sollte man sonst Kredite gewähren? Ein Beispiel: In einem zinslosen System nimmt ein Bauer einen Kredit auf, um sich einen neuen Mähdrescher zu kaufen. Die Raten müssen in fünf Jahren abbezahlt werden und belaufen sich exakt auf die Summe des geliehenen Kredites. Abgesehen von dem inflationsbedingten Wertverlust des Geldes und dem Umstand, dass Banken auch Personal- und Infrastrukturkosten haben, wären sie bei Ausbleiben der Ratenzahlungen auch stets die Verlierer.

Dann nämlich pfändet die Bank eine Erntemaschine, die durch Abnutzung und neuere Modelle bloß noch einen Bruchteil des ursprünglichen Wertes hat, während der Bauer zu günstigen Konditionen eine Maschine hatte, die er sich ohne Bank nicht hätte leisten können. Seine Konsequenzen wären gering - er geht zur nächsten Bank.

Konstruktive Debatte muss her

In diesem Beitrag sollen weder ausufernde Spekulationen, ungerechte Vermögensverteilungsverhältnisse oder die extreme Abkopplung der Finanzindustrie von realwirtschaftlichen Bedingungen negiert werden. Aber Untergangsapologeten, die mit simplen Milchmädchenrechnungen den Kern unseres Geldsystems als Taschenspielertrick denunzieren wollen, unterbinden damit konstruktive Debatten, die gerade jetzt dringend nötig wären.

So ermöglicht eine geringe Mindestreservepflicht der Banken, also die Möglichkeit, dass diese Geld aus dem Nichts erschaffen, eine höhere Flexibilität des Finanzsektors, was - zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt - Expansion und wirtschaftlichen Aufschwung beflügeln kann.

Wirtschaftspolitische Instrumente einsetzen

Die diskutable Problematik dabei ist, dass seitens der Politik die Regulation der Giralgeldschöpfung sträflich vernachlässigt wurde, wodurch dem exponentiellen Geldmengenwachstum keine Grenzen gesetzt waren. Geeignete wirtschaftspolitische Instrumente wären jedoch sehr wohl vorhanden, und wenn diverse Autoren dies leugnen und das Geldsystem von vornherein als Verschwörungskonstruktion verteufeln, dann tragen sie damit nicht zur Aufklärung der Gesellschaft bei, sondern bloß zur Auflagensteigerung ihrer Bücher. (Rudolf Ruschel, Leserkommentar, derStandard.at, 8.8.2012)