An einem warmen Sommerabend saßen wir in einem Restaurant im Zentrum von Damaskus und blickten über die Stadt. Wir sahen den Kassiun-Berg, der beleuchtet war wie ein Weihnachtsbaum, machten uns aber keine falschen Vorstellungen darüber, dass in Syrien alles in Ordnung sei. Doch hier in der Hauptstadt ging das Leben seinen gewohnten Gang. Wir diskutierten darüber, wie sich die Dinge in der letzten Woche beruhigten, und hielten einen Moment inne - möglicherweise die Ruhe vor dem Sturm.

Nur ein paar Tage später fegte der Sturm tatsächlich über die Stadt. Monatelang bekämpften sich Opposition und Regime in den Vororten von Damaskus. Der Lärm von Artillerie hallte in der ganzen Stadt wider, friedliche Demonstranten gingen nach wie vor in großer Zahl auf die Straße, immer mehr Zusammenstöße konnte man hören. Doch im Großen und Ganzen spielte sich alles in bestimmten Gegenden ab.

Es war weithin bekannt, dass sich die Freie Syrische Armee auf Damaskus zubewegte und in Stadtvierteln wie Midan und Kafr Sousah Stellung bezog. Doch viele von uns sahen sich imstande, ihrem Alltag nachzugehen, obwohl wir wussten, dass sich die Lage früher oder später verändern musste. Ab Sonntag spürten wir die Veränderung. Der Krieg, der an der Haustür angekommen war, überschritt nun die Türschwelle. Mehr Explosionen, mehr Schießereien, das furchtbare Geräusch kam näher und näher, das ständige Dröhnen der Hubschrauber, das bereits in den vergangenen Wochen zum Alltag geworden war.

Dort, wo ich lebe, in der Altstadt zwischen Bab Touma und Bab Salam, zwischen alten Häusern in einem engen Straßengewirr, war es ruhig, spielten Kinder in den Straßen, und viele bereiteten sich auf den bevorstehenden Fastenmonat Ramadan vor. Am Morgen saß ich auf dem Dach meines Hauses, am Abend bekam ich eine genauere Vorstellung davon, woher der Gefechtslärm kam. Von Montag auf Dienstag wurden die Gefechte heftiger, mein Haus wackelte, als Hubschrauber im Stadtviertel Qaboun abgeschossen wurden. Einmal zischten sogar ein paar verirrte Kugeln über meinen Kopf. Es hörte sich an wie das Geräusch, das mein iPhone beim Absenden einer E-Mail macht. Die Explosionen und Schüsse dauerten die ganze Nacht an.

Gleiches am Mittwoch, als ich aufwachte. In der Nähe meines Hauses fühlte ich mich sicher genug, doch der Gedanke daran, was überall sonst in der Stadt geschah, drehte mir den Magen um. Wie weiß man, welche Geräusche Waffen erzeugen? Welches Blutbad sie anrichten können? Dann ein paar laute Knalle, zwar in einiger Entfernung, trotzdem überkam mich ein Schaudern. Als einige Wochen zuvor eine Autobombe außerhalb eines Gerichtsgebäudes explodiert war, hatte ich ziemlich das gleiche Gefühl gehabt. Es schien, als ob ich bereits den Unterschied zwischen den Geräuschen einer Autobombe und der Artillerie lernte. Bald berichteten die Fernsehnachrichten über einen Anschlag auf ein Treffen des Sicherheitsapparates und den Tod von Ministern. Ich verließ mein Haus, und als ich in Qamaria, das sich in der Nähe meines Hauses befindet, ankam, eilten Ladenbesitzer aufgeregt von Geschäft zu Geschäft mit Neuigkeiten über die aktuellsten Ereignisse. Einige starrten nur ungläubig auf die Fernsehschirme - der Anschlag geschah in einer der am besten gesicherten Gegenden von Damaskus, einen Steinwurf vom Präsidentenpalast und der amerikanischen Botschaft entfernt.

Die Geräusche hielten an, das Knacken und Flitzen von weiß Gott was. Plötzlich, als ich meinem Gesprächspartner am Telefon erklärte, dass es in meinem Teil der Altstadt wie gewohnt aussah, beobachtete ich zwei bewaffnete Männer, wie sie einige Straßen entfernt auf ein Hausdach kletterten. Ich lief auf die Straße und sagte den Nachbarskindern, dass sie ins Haus gehen sollten. Ich spazierte durch die Gassen nahe meinem Haus. Meine Nachbarn, die ich immer als regimetreu ansah, schienen kein Problem mit den Bewaffneten am Dach zu haben, und die Kinder kamen bald wieder heraus auf die Straße, um zu spielen. Das ließ mich an ihrem Urteilsvermögen zweifeln.

Zurück in Qamaria, schlossen die Geschäfte früher, einige Eigentümer zogen es sogar vor, die Nacht in ihren Läden zu verbringen. Als die Sonne unterging, schaute ich erneut auf das Dach: Die Bewaffneten hatten es sich gemütlich gemacht und hissten Flaggen, die deutlich machten, dass sie zum Regime gehören. Kurz nach Einbruch der Nacht: laute Explosionen in der Ferne. Die Stromversorgung wurde abgeschaltet. Plötzlich mehrere Gewehrsalven in der Nachbarschaft, dann wieder Ruhe. In den nächsten Stunden blieb es ruhig. Die Nachbarn bevorzugten es, in der Gasse zu plaudern, unter der einzigen Lampe, die noch leuchtete. Kurz vor Mitternacht kam der Strom zurück, dann um 2 Uhr morgens ein Zischen und Explosionen in einer der Gassen in der Nähe, dann wieder Ruhe.

Mittwoch: Es schien, als ob die Hölle losbrechen würde. So viel geschah, an so vielen Plätzen. Die Menschen fanden es schwierig, die Flut an Ereignissen zu verarbeiten. Den Blick  konnten sie nur dann von den TV-Nachrichten abwenden, wenn ein Verwandter oder Freund anrief, um herauszufinden, ob es jedem gut geht, um sie gleich danach mit neuesten Informationen, Gerüchten und Verschwörungstheorien zu versorgen.

Der Donnerstagmorgen brach mit dem bekannten, schrecklichen Geräusch des Krieges an: den dumpfen Detonationen, die ohne Zweifel vom Abschuss eines Panzergeschoßes stammten, irgendwo in der Altstadt, möglicherweise im Stadtviertel Qaboun. Hubschrauber kreisten über der Stadt. Langsam kamen Menschen auf die Straßen, in kleinen Gruppen, um die Ereignisse der vergangenen Nacht zu besprechen. Nur sehr wenige Geschäfte öffneten, einige Ladenbesitzer hatten es überhaupt gleich vorgezogen, die Nacht in ihren Geschäften zu verbringen, anstatt das Risiko des Nachhausegehens einzugehen.  Am letzten Donnerstag vor dem heiligen Monat Ramadan wären die Straßen normalerweise überfüllt - doch so etwas hatte ich in der Altstadt noch nie gesehen: gedämpfte Stimmen, nervöse Gesichtsausdrücke, Blicke in den Himmel, als eine weitere Explosion widerhallte. Im Laufe des Tages schien der Lärm der Kämpfe geringer zu werden. Die Nachrichten, die aus den Vororten kamen, waren jedoch entsetzlich. Jene, die konnten, versuchten ihr Bestes, um sicherere Gebiete zu erreichen. Viele suchten Zuflucht bei entfernt verwandten Familienmitgliedern, mein Nachbar hatte Verwandte aus Harasta (Vorort von Damaskus, Anm.) bei sich wohnen. In dem kleinen Haus lebten vermutlich ein Dutzend oder mehr Menschen. Ein anderer Nachbar borgte sich Bettzeug bei mir aus.

Der Müll häufte sich bereits in den Straßen, die Müllabfuhr tauchte nicht auf. In der Sommerhitze von Damaskus dauert es nicht lange, bis der Gestank widerlich wird. Am späten Nachmittag besuchte ich den Gemüsemarkt am anderen Ende der Via Recta (Straße in der Altstadt, Anm.). Der normalerweise geschäftige Markt war verlassen, wenig Obst oder Gemüse wurde angeboten, Gerüchte von Panikkäufen kursierten bereits zuvor in der Stadt. Wahrscheinlich schafften es die Lieferanten nicht, in die Stadt zu kommen, oder wollten es gar nicht erst versuchen. Man weiß zwar, in welchen Gebieten die größten Probleme herrschen, und man kann sich vorher erkundigen, um Details zu erfahren, doch der Weg von einem Ort zum anderen birgt ein unbekanntes Risiko, das viele Menschen nicht bereit sind einzugehen. Um 6 Uhr abends schlossen die wenigen Läden, die noch offen hatten. In den eineinhalb Jahren seit Ausbruch der Revolution hatte sich die Altstadt noch nie so angefühlt. Der einzige Gast im renommiertesten Restaurant der Stadt war der eigene Geschäftsführer.

Die Donnerstagnacht war verhältnismäßig ruhig, für viele wahrscheinlich die erste Chance auf ein wenig Schlaf. Doch kurz vor 7.30 Uhr freitagmorgens rüttelte mich das trommelähnliche Geräusch von Artillerie aus dem Schlaf, einige Minuten später eine weitere Salve Explosionen, dann wieder Ruhe. Ich versuchte mir selbst einzureden, dass die Stadtviertel, wo die Granaten landen mussten, zu diesem Zeitpunkt unbewohnt sein mussten und die Schlacht zwischen zwei kämpfenden Armeen ausgetragen wurde. Bilder von den Kriegen im Libanon, in Jugoslawien und Tschetschenien schossen mir durch den Kopf.

Die nächsten 24 Stunden sollten den Beginn des Ramadan markieren - in Syrien eine wichtige und fröhliche Zeit. Die Zeit für Familien, zusammenzukommen, eine Zeit, in der es mehr ums Essen als ums Fasten geht. Syrien ist überwiegend islamisch, aber moderat. Ramadan ist mehr ein kulturelles Fest, ein wenig wie Weihnachten in Europa. Für viele war der Fastenmonat die einzige Zeit, in der sie die Moschee besuchten - bis zum Beginn der Revolution, als Moscheen der einzige Ort wurden, wo sich eine Menschenmenge versammeln konnte. Das Fasten wird meistens gefolgt von einem Festessen mit Familie und Freunden. Die ganze Nacht lang bis zum Suhur, der Mahlzeit vor dem Sonnenaufgang. Bei Tagesanbruch kommt schließlich Abu Tableh vorbei und schlägt die Trommel in den frühen Morgenstunden, in denen viele noch nicht einmal zu Bett gegangen sind.

Doch diese Jahr sollte anders werden: Die Lebensmittelpreise sind gestiegen und die Kosten zum Kochen haben sich verdreifacht. Es gab wenig Anzeichen für Vorbereitungen. Stattdessen Kriegslärm aus den Vororten im Osten der Stadt den ganzen Tag lang, auch mehrere große Explosionen. Die Altstadt war fast komplett verlassen, nur ein paar Lebensmittelgeschäfte hielten offen. Einige Ladenbesitzer waren schon seit Tagen nicht mehr zu Hause. Die einzigen Menschen auf der Straße waren lokale Anrainer. Im Großteil der Stadt war es ruhiger geworden: Der Müll, der seit Tagen nicht eingesammelt wurde und zu stinken begann, wurde eingesammelt. Raslan, Osama und Hasan - die Kinder in meiner Gasse - benutzten Schubkarren, um ihn woandershin zu verfrachten. Als die Nacht anbrach, konnte man immer noch Echos von dem hören, was weiter weg geschah: Ein Schusswechsel, der sich sehr nah anhörte, dauerte nur wenige Minuten. Dann nur mehr wenig.

Der Rest der Woche verging relativ friedlich. Von Zeit zu Zeit kann man noch immer den Lärm der Zusammenstöße und Explosionen hören, doch großteils scheint die Lage sich gebessert zu haben. Wie lange, wissen wir nicht. So viele Syrer leiden jetzt, so viele haben Angst, so viele würden gerne flüchten, aber haben keine andere Möglichkeit, als zu bleiben. Fürs Erste werde auch ich bleiben, solange ich kann. Ich bin in Gedanken bei jedem einzelnen Syrer, der von diesem schrecklichen Konflikt betroffen ist. Und es sind so viele davon betroffen.

Der Ramadan ist im vollen Gange und die Menschen sind entschlossen, stur weiterzumachen. Die Stimmung ist düster und keiner ist in Feierlaune, wie es sein sollte. Mehr Menschen sind unterwegs, der Müll wurde eingesammelt, die Märkte haben wieder Nahrungsmittel. Aber die Menschen haben noch immer Angst, jeder weiß, dass es noch nicht vorbei ist, viele flüchten. Die meisten aber beten einfach nur für Frieden. (John Wreford aus Damaskus, verfasst am 27.7., derStandard.at, 31.7.2012)