Stefan Wallner sieht bei den Grünen derzeit eine Phase mit einem "extrem hohen Konsens". Das Bild des zerstrittenen Haufens werde nur "von außen" gerne gepflegt. Im Interview mit derStandard.at erklärt er, warum die Wirtschaftskrise den Grünen nützen könnte und dass die SPÖ derzeit ein attraktiverer Koalitionspartner ist als die ÖVP.

derStandard.at: Wie sieht der grüne Kernwähler, die grüne Kernwählerin aus? Bitte um eine rein äußerliche Beschreibung: Kleidung, Schuhe, Handy.

Wallner: Wenn ich mich auf eine Person festlegen muss: eine Frau, Ende 30, Anfang 40, berufstätig, hat ein Kind, ist urban-sportlich gekleidet, mit dem Fahrrad unterwegs, verwendet ein iPhone.

derStandard.at: Also eine ökonomisch gut gestellte Person?

Wallner: Eine ökonomisch unabhängige Person. Nicht zwingend gut gestellt. Meine Erfahrung ist, dass bei Grün-WählerInnen Lebensqualität und Work-Life-Balance eine hohe Rolle spielen. Also eher keine Workaholics, oder wenn, dann nur Teilzeit-Workaholics.

derStandard.at: Gibt es Kreise, die die Grünen nie erreichen werden?

Wallner: Menschen, die starke Zukunftsangst haben, die sich Veränderungen verschließen. Die Grünen sind die Partei, die am stärksten Veränderungen vorantreibt. Dazu braucht es einen gewissen Mut.

derStandard.at: Gerade jetzt, in der Wirtschaftskrise, haben aber viele Menschen Zukunftsängste. Schlechte Zeiten für die Grünen?

Wallner: Grundsätzlich haben Sie recht, dass es eine schwierige Situation sein müsste. Aber ich glaube, dass es gerade umgekehrt ist: Den Leuten ist klar, dass es eine Veränderung braucht. Wir haben ein Finanzmarktcasino aufgebaut, wo wenige Leute enorme Summen verdient haben - und jetzt müssen alle die Rechnung bezahlen. Mittlerweile ist allen klar, dass die Realwirtschaft wieder Vorrang haben muss vor der Finanzwirtschaft.

derStandard.at: Eva Glawischnig ist am Wochenende zu ihrer "Sommertour" aufgebrochen: Sie wird fünf Wochen lang in allen Bundesländern mit interessierten Menschen wandern, grillen, Volksfeste feiern und joggen. Warum diese starke Zentrierung auf die Person Eva Glawischnig?

Wallner: Im Moment herrscht ein ganz starkes Misstrauen, eine Ablehnung der Politik. Gleichzeitig gibt es aber das Bedürfnis, über Themen zu reden. Wir glauben, der beste Weg ist, in den Dialog zu kommen. Beim gemeinsamen Laufen, Wandern, Grillen wird intensiv über Politik diskutiert - während bei politischen Veranstaltungen viele sagen: Da geh ich nicht hin.

derStandard.at: Aber warum wird Eva Glawischnig alleine auf Tour geschickt - warum nicht mehrere führende Grüne?

Wallner: Eva Glawischnig wird die Grünen in den nächsten Walhkampf führen. Es geht ihr darum, zu erfahren, wie die Stimmung ist, was die Themen sind. Im Herbst können wir das dann im Wahlprogramm verarbeiten. In allen Bundesländern sind die regionalen Grünen dabei.

derStandard.at: Hat Glawischnig denn zu wenig Bodenkontakt?

Wallner: Nein, die Distanz zwischen Bevölkerung und Politik ist generell sehr hoch. Viele sagen: Bei Politik will ich nicht anstreifen - aber bei den Grünen vielleicht eh noch am ehesten. Dieses Gefühl wollen wir aufgreifen.

derStandard.at: Christoph Chorherr und Daniela Musiol streiten auf Chorherrs Blog öffentlich über direkte Demokratie. Wie gefällt Ihnen so eine Aktion?

Wallner: Das gefällt mir gut. Politik lebt von der Auseinandersetzung. Es wird gegeneinander argumentiert - und das bietet anderen die Möglichkeit, die sich die Diskussion anschauen, sich eine Position zu bilden. Und es ist eine transparente Form, damit umzugehen, dass es unterschiedliche Meinungen gibt.

derStandard.at: Auf welcher Seite stehen Sie in diesem Streit?

Wallner: Ich würde mich nicht einer Seite zuordnen. Direkte Demokratie ist wichtig, man muss aber behutsam damit umgehen - in Österreich wurde sie in den letzten Jahren verschludert. Die ÖVP predigt jetzt die direkte Demokratie, und die 400.000 Unterschriften vom Bildungsvolksbegehren hat sie im Ausschuss begraben. Es kann aber auch nicht sein, dass wir über jede Entscheidung eine Volksabstimmung machen - dann würden Entscheidungen extrem langsam werden.

derStandard.at: Wo sind dann die Grenzen der direkten Demokratie?

Wallner: Wenn es um Menschenrechte, Grundrechte, Finanzfragen geht. Wesentlich bei Abstimmungen ist, dass es keine Ja-Nein-Fragen sind, sondern dass man gut entwickelte Modelle einander gegenüberstellt und sagt: Okay, wir haben ein gemeinsames Ziel - zum Beispiel Feinstaubentlastung in Graz. Da gibt es das Modell Umweltzonen, das Modell Citymaut, das Modell tageweises Verzichten auf den eigenen Pkw - und zwischen diesen Modellen kann man wählen.

derStandard.at: Das hätte man aber auch in Wien so machen können, bevor man das Parkpickerl einführt.

Wallner: Es geht ja um eine Erweiterung der Parkraumbewirtschaftung. Ich bin mir sicher, dass die WienerInnen , die in den Pickerlbezirken wohnen, nicht darauf verzichten wollen würden, weil man dort wegen des Pickerls 30 Prozent weniger Autos hat.

derStandard.at: Warum soll man dann über die Erweiterung des Parkpickerls überhaupt abstimmen?

Wallner: Das ist eine Entscheidung, die die Wiener Stadtregierung getroffen hat. Man will die Unterschriften, die gesammelt wurden, ernst nehmen.

derStandard.at: Nicht nur Musiol und Chorherr streiten, auch andere Grüne tragen immer wieder öffentlich Meinungsverschiedenheiten aus. Wie gehen Sie mit dem Ruf als "zerstrittener Haufen" um?

Wallner: Alle anderen Parteien würden sich wünschen, so wenig zerstritten zu sein wie wir. Wenn ich mir anschaue, was sich in der SPÖ in Grundsatzfragen zwischen Ackerl und Faymann tut und was sich in der ÖVP bei praktisch jedem Thema tut, dann gibt es bei den Grünen derzeit eine Phase mit einem extrem hohen Konsens.

derStandard.at: Aber dieser Ruf bleibt trotzdem.

Wallner: Weil manche ihn von außen gerne pflegen. Aber es entspricht nicht der Realität. Außerdem glaube ich nicht, dass Sie irgendeine Partei finden werden, wo Sie als Wählerin sagen: Das unterschreibe ich zu hundert Prozent.

derStandard.at: Was sind Punkte im grünen Programm, bei denen Sie selbst sagen: Da tue ich mir schwer damit?

Wallner: Das grüne Programm ist ein sehr grundsätzliches Programm, das ich zu hundert Prozent unterschreiben kann.

derStandard.at: Vor allem in letzter Zeit haben sich die Grünen beim ESM und beim Transparenzgesetz zusammen mit der Regierung aktiv an der Gesetzgebung beteiligt. Macht man das, um sich als Koalitionspartner ins Gespräch zu bringen?

Wallner: (seufzt) Es gibt in der Politik noch so etwas wie Überzeugungen. Für dieses Transparenzpaket haben Grüne weit mehr als zehn Jahre gekämpft. Wir sind mit dem U-Ausschuss jetzt einen Riesensprung weitergekommen. Und beim ESM haben wir gesagt: Okay, da kann man zustimmen, weil es eine parlamentarische Rückkoppelung gibt und wesentliche Schritte in Richtung Finanztransaktionssteuer gesetzt werden.

derStandard.at: Rot-Grün in Wien ist so etwas wie ein Testballon für den Bund. Zuletzt war die Stimmung wegen des Parkpickerls etwas getrübt. Schlechte Zeichen für den Bund?

Wallner: Rot-Grün funktioniert in Wien sehr gut. Auch in herausfordernden Situationen werden gemeinsam Lösungen gefunden - das unterscheidet Rot-Grün von Rot-Schwarz im Bund. Dort wird ja jede Auseinandersetzung nach dem Motto geführt: Gibst du mir ein Zipferl, muss ich auf der anderen Seite ein Zipferl bekommen.

derStandard.at: War die Einigung, eine nachträgliche Volksabstimmung über das Parkpickerl durchzuführen, nicht auch ein "Zipferl" der Grünen an die Roten?

Wallner: Das war eine gemeinsame Entscheidung. Da hat niemand herumgezipfelt.

derStandard.at: Das heißt, es Ihnen eigentlich egal, ob Sie mit SPÖ oder ÖVP koalieren?

Wallner: Nein. Weil es nicht egal ist, was sich an Projekten umsetzen lässt. Es ist klar, dass im Moment nicht nur aufgrund der Schwäche der ÖVP eine schwarz-grüne Koalition unwahrscheinlich ist. Die ÖVP ist extrem konservativ geworden unter Spindelegger. Die Weltoffenheit, die ein Josef Pröll oder ein Erhard Busek versucht hat, ist nur mehr in Spurenelementen da.

derStandard.at: Es wirkt manchmal ein bisschen so, als wären die Grünen die Partei der 40-Somethings. Wie gelingt es, Nachwuchs für höhere Positionen zu gewinnen?

Wallner: Das funktioniert nicht so schlecht. Die Innsbrucker Liste bei der Gemeinderatswahl war eine extrem junge Liste. Wir haben in Wien mit Martina Wurzer eine sehr junge Gemeinderätin drinnen. Es gibt viele Junge, die sich einbringen wollen und sich Schritt für Schritt etablieren.

derStandard.at: Mit Forderungen wie nach einem Verbot von Zigarettenautomaten werden Sie ErstwählerInnen aber kaum ansprechen können.

Wallner: (seufzt) Die Frage ist immer, wie hoch man bestimmte Themen aufhängt. Die Frage ist, wie man das Einstiegsalter beim Rauchen nicht noch weiter absenken kann. Da kann man darüber nachdenken, welche Maßnahmen dafür die richtigen sind. Aber ich glaube nicht, dass allein davon die Entscheidung der WählerInnen abhängt, ob sie Grün wählen oder nicht.

derStandard.at: Was ist links an den Grünen?

Wallner: Im klassischen Sinne links ist das starke Eintreten für Chancengleichheit, für Armutsbekämpfung, auch für eine intakte Umwelt, denn die Verkehrsbelastung ist ja sozial sehr ungerecht verteilt: Wer wohnt in den schleißigsten Wohnungen an den Hauptstraßen? Das sind nicht die Reichen und Schönen, sondern die Leute, die weniger Geld haben und es sich nicht leisten können, woanders hinzuziehen. Ich tue mir aber schwer mit diesen Links-rechts-Schemata, weil sie nicht mehr sehr tauglich sind in der Politik. Ist die FPÖ links, ist sie rechts? Beim Ausländerthema ist sie rechts, bei anderen Themen eher linkspopulistisch.

derStandard.at: Pilz hat den Piraten Plätze auf der grünen Liste angeboten. Ein Angebot, das auch Sie unterstützen?

Wallner: Das ist gar nicht möglich. Grüne Listenplätze werden auf Landesversammlungen und am Bundeskongress gewählt - das heißt, es kann niemand Listenplätze anbieten. Aber bitte, es sind alle eingeladen, bei uns zu kandidieren.

derStandard.at: Wie kommt Pilz dann auf die Idee?

Wallner: Das müssen Sie ihn fragen - nicht jede Idee von Peter Pilz erschließt sich mir im ersten Moment (lacht).

derStandard.at: Haben die Grünen eine Position in der Beschneidungsdebatte?

Wallner: Das ist eine sehr heikle Debatte, weil unterschiedliche Wertkonflikte verhandelt werden. Es braucht eine breite Diskussion mit den Religionsgemeinschaften, wo alle Aspekte behandelt werden - Kindeswohl, religiöse Traditionen.

derStandard.at: Also haben Sie keine Position?

Wallner: Keine Position, die Ja oder Nein heißt. Viele Menschen erleben Beschneidung als identitätsstiftende Frage, und damit muss man behutsam umgehen. Ich glaube, dass es auf die Notwendigkeit einer rechtlichen Klärung hinauslaufen wird - aber davor braucht es Dialog.

derStandard.at: Manche sagen, das sei eine Entscheidung einer säkularen Gesellschaft - Dialog mit Religionsgemeinschaften sei da nicht zielführend.

Wallner: Das Problem habe ich aber bei vielen Themen - und ich glaube, dass der Dialog gerade bei einem so sensiblen Thema besonders wichtig ist. (Lisa Aigner/Maria Sterkl, derStandard.at, 31.7.2012)