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Wunderkind Ye Shiwen liest gerne Krimis und schwimmt flotter als Herren.

Foto: APA/EPA/Kraemer

Ungewöhnlich, auffällig und überprüfungswürdig, aber physiologisch nicht unmöglich. So nennt der deutsche Molekularbiologe und Dopingexperte Werner Franke das Schauspiel, das die chinesische Schwimmerin Ye Shiwen am Samstag kraulend auf dem Weg zur Goldmedaille über 400 m Lagen bot. Auf der vorletzten Bahn war die 16-Jährige aus Hangzhou 13 Hundertstelsekunden schneller als 45 Minuten zuvor Michael Phelps bei dessen verpatztem Rennen über dieselbe Distanz. Auf den letzten 50 Metern hängte Ye Shiwen virtuell sogar Olympiasieger Ryan Lochte ab - um satte 17 Hundertstel. Über die gesamten 100 Meter gerechnet unterlag sie Lochte nur um drei Hundertstel.

Bei der WM vor einem Jahr in Schanghai, rund 190 Kilometer nordöstlich ihrer Heimatstadt, war Ye Shiwen als Fünfte über die längste Lagendistanz noch sieben Sekunden langsamer gewesen. Der am Samstag von ihr markierte erste Weltrekord einer Dame nach Verbot der Hightech-Anzüge hinterließ Fragen, die die 1,72 Meter große und 64 Kilogramm schwere Athletin einfach beantwortete: "Wir haben von Kindheit an wissenschaftliches Training. Da ist es für mich jetzt nicht mehr sehr schwer." Wie schwer es davor für sie war, beantwortet Ye Shiwen nicht.

Begonnen mit dem Leistungssport hat sie jedenfalls als Sechsjährige daheim in Hangzhou. Schon ein Kindergärtner hatte festgestellt, dass sie wegen ihrer großen Hände ein Talent sein könnte. Nach den Jahren des strikt abgeschirmten Aufbaus ermöglichte ihr Chefcoach Xu Guoyi vor der Heim-WM in Schanghai auch einen Blick in eine andere Welt, ein Training in Australien bei Dennis Cotterell, dem Coach des dreifachen Olympioniken Grant Hackett, der 2008 zurückgetreten ist, aber immer noch die Kurzbahnweltrekorde über 800 und 1500 m Kraul hält.

Xu Guoyi (42) ist für Ye Shiwen die oberste Instanz. "Jetzt bin ich glücklich", sagte sie, nachdem ihr der vergötterte Coach für den Olympiasieg eine Umarmung gegönnt hatte. (Siegfried Lützow, DER STANDARD, 20. Juli 2012)