Elisabeth Jäger hat 2002 die Adipositas Selbsthilfegruppe Österreich gegründet und setzt sich seither für die Rechte von schwerst Übergewichtigen ein.

Fotos: Privat

Grund war auch ihre Selbsterfahrung: "Ich hatte mich davor von 115 auf 148 Kilogramm hinaufdiätet, bei diesem Höchststand (Bild l., Anm.) unterzog ich mich einer Bypass-OP. Heute wiege ich konstante 85 Kilogramm."

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"Wer dick ist, wird gesellschaftlich immer geächtet", sagt Elisabeth Jäger, Leiterin der Adipositas Selbsthilfegruppen Österreich. Sie hat am eigenen Leib erfahren, wie hart und erniedrigend es etwa ist, sich nur mehr in Restaurants zu trauen, wo die Sessel nicht unter dem Gewicht zusammenbrechen. Mit derStandard.at spricht sie über einen Magen-Bypass als oft einzige Chance, den Wirtschaftsfaktor "dicke Menschen" und die Komplikationen, zu denen es in Flugzeugtoiletten kommen kann.

derStandard.at: Frau Jäger, Sie haben sich fürchterlich über die Meldung geärgert, dass adipöse Menschen im Schweizer Bern oft nur im Tierspital behandelt werden können. Was regt Sie so dermaßen auf? 

Jäger: Dass mit solchen kurzen Berichten das Klischee "Die Dicken sind halt selber schuld" bedient wird. Außerdem wird damit jenen Leuten eine Plattform gegeben, die sich gerne darüber lustig machen - mit Kommentaren wie "Nicht füttern, bis sie doch in die Röhre passen". Dabei handelt es sich bei Adipositas um eine "normale" Krankheit. Nur, bei welchen anderen Krankheiten ist Lachen in der Öffentlichkeit so gängig wie bei dicken Menschen? Lacht jemand, wenn ein Kind aus dem Rollstuhl fällt? Aber wenn ein Dicker stürzt, ist es besonders lustig. Und eines kann ich Ihnen versichern: Freiwillig dick ist niemand. 

derStandard.at: Was empfehlen Sie als Vorsitzende der Selbsthilfegruppen den Betroffenen?

Jäger: Für viele Betroffene ist eine Bypass-Operation, bei der ein Teil des Magens "abgeklemmt" wird, oft die einzige Möglichkeit. Wobei wir in Österreich eine viel bessere medizinische Versorgung für adipöse Menschen haben als etwa in der Schweiz. In verschiedenen Krankenhäusern gibt es sowohl das notwendige Equipment als auch spezielle interdisziplinäre Behandlungen, um diese menschenunwürdigen Methoden zu vermeiden. Es ist ja nicht so, dass in einem Tierspital ein Veterinärmediziner die Untersuchungen durchführen kann. Man muss noch den eigenen Mediziner mitnehmen und alles selbst bezahlen.

derStandard.at: Sie haben sich selbst einer solchen Operation unterzogen. Was hat Sie dazu bewogen?

Jäger: Als dicker Mensch ist man immer geächtet, weil es jeder sofort sieht - Magersucht ist ja meist nicht sofort erkennbar. Und dann steigt man in einen teuflischen Kreislauf ein: Man isst den Frust und Kummer hinunter, kann zu keinen Konzerten oder ins Kino oder Theater mehr gehen, weil man in keine Sitze mehr hineinpasst. Ich habe mich nur in bestimmte Cafés und Restaurants getraut, wo ich wusste, dass die Stühle oder Bänke unter mir nicht zusammenbrechen. Fehlt dann noch der familiäre Rückhalt, führt dies zu noch mehr Vereinsamung und man isst die Probleme wieder hinunter. Der Kühlschrank bleibt dann meist der einzige wahre Freund - der ist immer nett zu einem.

derStandard.at: Wie ist es Ihnen nach der Operation gegangen?

Jäger: Das ist ein kalter Entzug, wahrscheinlich wie bei einem Alkoholiker. Denn die "Droge" Essen muss ich ja zu mir nehmen. Außerdem war mein Organismus auf permanente Zucker- und Fettzufuhr konditioniert. Erst nach fünf bis sechs Wochen konnte ich wieder einigermaßen normale Dinge essen. Daher empfehle ich, dass eine psychologische Betreuung in Anspruch genommen wird, die schon vor der Operation beginnt, dies aber auch von den Kassen ermöglicht werden sollte. Denn das Abnehmen alleine löst ja nicht alle Probleme.

derStandard.at: Das Problem Adipositas betrifft immer mehr junge Menschen. Würden Sie auch Jugendlichen eine Operation empfehlen?

Jäger: Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust, denn es ist ein massiver medizinischer Eingriff. Aber wenn ich die gesellschaftliche Ächtung betrachte, bin ich dafür. Stellen Sie sich vor, wenn eine 16-Jährige im Kino nur auf dem "Love Chair" Platz nehmen kann, wo sonst Liebespärchen sitzen - und dann wird sie dort die ganze Zeit ausgelacht. 

derStandard.at: Gerade in der Lifestyle- und Werbeindustrie wird gern ein Image der Attraktivität propagiert, das meist dünne und durchtrainierte Menschen zeigt. Wie ist eine Trendumkehr möglich? 

Jäger: Durch Bewusstmachen und dadurch, sich auch einmal in die Lage eines dicken Menschen zu versetzen - wer macht das denn außer den Betroffenen? Es gibt Studien, dass wir pro Woche rund 2.500 Bilder wahrnehmen, die uns zeigen, wie wir aussehen sollen. Dann kommen noch die ganzen retouchierten Bilder, auf denen immer alles makellos ist. Mittlerweile machen ja bereits Zehnjährige Diäten und hungern, damit sie wie Hannah Montana aussehen. Außerdem werden in der Textilindustrie die Kleidergrößen immer kleiner geschnitten, damit die Menschen ein schlechtes Gefühl bekommen und alles tun, um in dieses Lifestyle-Schema hineinpassen.

derStandard.at: Pauschal wird Adipositas so beurteilt: Die betroffenen Menschen essen einfach zu viel, noch dazu lauter "schlechte" Nahrungsmittel, und machen schlicht zu wenig Bewegung. 

Jäger: Was oft vergessen wird: Es steckt ein System dahinter, denn adipöse Menschen sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Nahrungsmittelindustrie zielt ja darauf ab, vor allem "designtes" Essen mit einheitlichen Geschmacksstoffen abzusetzen. Und dann wird mit Light-Produkten und Floskeln wie "Ohne Zuckerzusatz" geworben. Dabei sind gerade diese Produkte besonders gefährlich, weil sich die Details im Kleingedruckten verstecken - nur liest das kaum jemand, geschweige denn versteht das noch wer.

derStandard.at: Ist das nicht oft auch eine Erziehungs- und Bildungsfrage?

Jäger: Adipositas hat ja nicht unbedingt etwas mit Intelligenz zu tun. Die Abhängigkeit beginnt viel früher. In Studien wurde herausgefunden, dass Embryos bis zu viermal mehr Fruchtwasser trinken, wenn sich die Mutter stark zuckerhältig ernährt. Und dann gibt es etwa den Hipp-Kindertee, der zu über 90 Prozent aus Zucker besteht. Oder den Vital-Frischkäse von Spar, der für Schwangere und Kinder völlig ungeeignet ist, wie im Kleingedruckten steht. Noch dazu leben viele Betroffene in prekären Situationen und haben kaum Zugang zu gesunden Lebensmitteln. Stattdessen kaufen sie oft billige Einheitsprodukte in Großpackungen - und einen Ernährungsberater oder Personal Trainer können sie sich sowieso nicht leisten. 

derStandard.at: Wie ist ein Entkommen aus dieser Spirale möglich?

Jäger: Die Betroffenen begeben sich ja nicht absichtlich an den sozialen Rand, sondern werden auch dorthin gedrängt. Das gilt für das Berufsleben genauso, denn Dicke machen fast alles und lassen sich viel gefallen, nur damit sie ihren Job behalten. Sie sind in jeder Hinsicht die Trottel der Nation. Das Mobbing beginnt oft bereits bei der Bewerbung. Ein Beispiel: Eine junge adipöse Frau bewirbt sich bei einer Leihwagenfirma, und beim Vorstellungsgespräch wird ihr ins Gesicht gesagt: "Tut uns leid, aber Sie können leider keinen direkten Kundenkontakt haben." Oder die Geschichte eines Buchhalters, der zehn Minuten nach einem Anruf zum Vorstellungsgespräch kommt und dort hört: "Der Job wurde vor fünf Minuten vergeben."

derStandard.at: Was kann auf politischer Ebene getan werden, um das Problem in den Griff zu bekommen?

Jäger: Der ganze Gesundheitsplan der Bundesregierung ist reine Augenauswischerei. Minister Alois Stöger konnte trotz mehrerer Anfragen von uns keine genauen Zahlen nennen. Im Ministerium werden einfach die Zahlen und Kosten aus den USA auf Österreich heruntergerechnet, und auf dieser Basis wird ein Plan erstellt. 

Ein Beispiel, wie was abläuft: Die österreichische Regierung schickt zu Verhandlungen über europäische Bestimmungen für Lebensmittelkonzerne neben Politikern einen Vertreter von Red Bull - das muss man sich vorstellen. Und die Schweiz ist mit jemandem von Nestle und anderen Nahrungsmittelkonzernen vertreten. Da kann doch keine Lösung herauskommen, die im Sinne der betroffenen Menschen ist.

derStandard.at: Wie sieht die Unterstützung vonseiten der Selbsthilfegruppen aus?

Jäger: Wir sehen uns als Auffangbecken, um die Menschen aus ihrer Einsamkeit herauszuholen, und beraten sie psychologisch, ernährungstechnisch und medizinisch. Außerdem verweisen wir sie an jene Krankenhäuser, die speziell ausgestattet sind. Denn als stark übergewichtiger Mensch ist man meist automatisch stigmatisiert: Kommt man wegen irgendwelcher Beschwerden zum Arzt oder ins Spital, wird als Diagnose meist sofort "Morbide Adipositas" angegeben. Auf die Art: "Nehmen's zuerst einmal ab, dann ist das mit dem Asthma oder der Bauchspeicheldrüse auch nicht mehr so schlimm." Es gibt Studien, dass das Krankenhauspersonal lieber Menschen mit Psoriasis, also Schuppenflechte, angreift als dicke Menschen.

derStandard.at: Wenn Sie das Spektrum Ihrer Tätigkeit in den Selbsthilfegruppen betrachten: Was zählt zu den schönsten und was zu den deprimierendsten Erfahrungen?

Jäger: Es gibt sowohl dort als auch da viele Geschichten. Aber wenn eine adipöse ältere Dame, die sich kaum mehr mit jemandem unterhalten hat außer mit ihrer Schwester, plötzlich nach der Bypass-OP mit allen spricht, bei Pensionistenausflügen mitfährt und dauernd unterwegs ist, dann freut mich das besonders.

Erschütternd ist dagegen, was eine übergewichtige Frau in einer Flugzeugtoilette erlebte: Sie merkte nach dem Stuhlgang, dass sie zu wenig Platz hatte, um sich ordentlich sauber zu machen. Also stopfte sie sich Klopapier in ihre Unterwäsche, parfümierte sich ganz stark ein und hoffte, dass niemand etwas merkt. Da können Sie sich vielleicht vorstellen, mit welchem Schamgefühl sie die restlichen acht Stunden des Fluges verbrachte. (Martin Obermayr, derStandard.at, 26.7.2012)