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Das System müsse neugestaltet werden, damit wieder Vertrauen in den Euro aufgebaut wird.

Foto: ap/markus schreiber

Berlin - Europa steht nach Ansicht führender Wirtschaftswissenschafter vor dem Abgrund und muss die Währungsunion so schnell wie möglich reformieren. "Europa steuert schlafwandelnd auf eine Katastrophe von unabsehbaren Ausmaßen zu", heißt es in dem Gutachten von 17 europäischen Ökonomen, das der Deutschen Presse-Agentur dpa vorliegt.

Die Wissenschafter, darunter die beiden deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger und Lars Feld, verlangen von den Regierungen schnelle durchgreifende Reformen, um den Kollaps zu vermeiden. Als Sofortmaßnahme fordern sie, die Schulden von Krisenländern in einen Tilgungsfonds mit gemeinschaftlicher Haftung auszulagern, um den Staaten wieder Luft zu verschaffen, sowie ein stärkeres Eingreifen der Europäischen Zentralbank (EZB). Eine langfristige Transferunion lehnen sie aber ebenso ab wie Eurobonds.

Einen Altschulden-Tilgungsfonds hatte auch der Sachverständigenrat der Bundesregierung gefordert, dem Bofinger und Feld angehören. Die schwarz-gelbe Koalition lehnt das strikt ab und verweist auf das "Bail-out-Verbot", wonach ein Land nicht für die Schulden eines anderen haften darf. Feld hielt dem in der "Financial Times Deutschland" (Mittwoch) entgegen, mit einem solchen Fonds könnten die Verbindlichkeiten langfristig wieder auf ein tragfähiges Niveau fallen. "Dann wäre auch ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar."

Berechtigter Ausblick

Den kritischen Ausblick der Ratingagentur Moody's für Deutschland nannte Feld berechtigt. Um den Euro nicht zu gefährden, plädierte er dafür, Griechenland im Euro zu halten, wobei es kein neues Rettungspaket geben dürfe, wenn die Auflagen nicht erfüllt würden. Dann gebe es nur die Möglichkeit eines erneuten Schuldenerlasses, sagte Feld der "Rheinischen Post" (Mittwoch). Die kurzfristigen Kosten eines Zusammenbruchs des Euro-Systems für Deutschland veranschlagte er mit über 3 Billionen Euro. Hinzu kämen die Kosten eines Wirtschaftszusammenbruchs wie nach der Lehman-Pleite 2008.

Die deutsche Bundesregierung reagierte gelassen auf den Warnruf der Ökonomen. "Die Einschätzung, dass Europa an der Schwelle zu einer Katastrophe steht, wird von der Bundesregierung ausdrücklich nicht geteilt", sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter. "Das ist eine von vielen Expertenmeinungen, die wir zur Kenntnis nehmen."

Deutschland habe sich von Beginn der Krise an dafür eingesetzt, dass die Konstruktionsfehler der Währungsunion beseitigt würden, vieles sei schon erreicht. "Die Verschärfung des Stabilitätspaktes und der Fiskalpakt sind nur Beispiele dafür", sagte Streiter. Ein Schuldentilgungsfonds sei auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.

Konstruktionsfehler der Währungsunion

Unter der Überschrift "Aus der Sackgasse - Ein Weg aus der Krise" verlangen die Experten, die Konstruktionsfehler der Währungsunion zu beseitigen und das System grundlegend zu reformieren, um das Vertrauen in den Euro zurückzugewinnen. Die Beseitigung der Altlasten - also der Schuldenkrise - müsse noch stärker als bisher von allen Euro-Ländern gemeinsam getragen werden, heißt es in der Studie, die vom US-Institute for New Economic Thinking veröffentlicht wurde.

Kurzfristig ist aus Sicht der Experten unter anderem die Ausweitung des Garantierahmens für die Schuldenstaaten notwendig, sofern sie die vereinbarten Reformauflagen umsetzten. Langfristig seien eine Bankenunion, tiefgreifende Finanzmarktreformen sowie Mechanismen zur Kontrolle der Fiskalpolitik erforderlich. Die Ökonomen verlangen aber auch einen geordneten Abwicklungsmechanismus für den Austritt von Staaten, die den Anforderungen des Fiskalvertrages nicht gerecht würden. Eurobonds lehnen sie ab.

Der frühere Wirtschaftsweise Wolfgang Wiegard distanzierte sich von den Warnungen der Ökonomen und lehnte einen Schuldentilgungsfonds ab. Positiv beurteilte er dagegen die Forderungen nach einem verstärkten Engagement der EZB: "Die EZB ist in der Tat die einzige Institution, die schnell und entschlossen handeln kann und über ein nahezu unbegrenztes Waffenarsenal verfügt", sagte Wiegard der Zeitungsgruppe "Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung". (APA, 25.7.2012)