Bild nicht mehr verfügbar.

Ein religiöses Ritual wird einer rechtlichen Prüfung unterzogen: Rabbi Netanel Wurmser folgt der Debatte im Deutschen Bundestag um das umstrittene Beschneidungsurteil in Köln.

Foto: Gero Breloer, File/AP/dapd

Ist die heftig ausgetragene Diskussion um die Rechtmäßigkeit ritueller Beschneidung von Jungen eine "pornografische Debatte", wie Henryk M. Broder meint? Sicher, alles was sich in der Umgebung heikler Körperzonen abspielt, verkauft sich gut und stößt mit schöner Regelmäßigkeit auf ausgiebiges mediales Interesse. Auffällig oft entzünden sich die Auseinandersetzungen um die Grenzen der Religionsfreiheit an Fragen der Geschlechtlichkeit, auch der Kopftuchstreit wurde ja mit Argumenten der Unterdrückung der Frau, also letztlich als geschlechterpolitische Debatte geführt.

Nun also steht das prekäre Symbol männlicher Macht und Niederlage auf der Tagesordnung. Dass sich in der deutschen Besorgnis ums jüdisch-muslimische Gemächt aber in eine alte Angst vor der Potenz des beschnittenen Mannes spiegelt, wie Broder meint, ist ein frommer Wunsch und nur die halbe Wahrheit. Denn die antisemitisch-sexistischen Projektionen gegenüber Juden waren immer ambivalent, sie stellten den Juden als potent, pervers, aber auch als homosexuell und weibisch dar.

Sigmund Freud meinte, "das dem Juden und dem Weibe Gemeinsame sei die Beziehung zum Kastrationskomplex". Der Jude als beschnittener Mann erinnert an die Frau, das Schreckbild der vollzogenen Kastration. Es ist eben der eigenartige Effekt von Angst und Abwehr, dass sie doppelbödige Fantasmen erzeugen, in denen Symbole wie Kippbilder immer auch in ihr Gegenteil umschlagen. So kann die Zirkumzision zugleich Potenz und Impotenz bedeuten, je nach Perspektive.

"Rituelle Kastrationsandrohung"

Interessant an der gegenwärtigen Debatte ist aber nicht das alte Spiel des Kastrationskomplexes, sondern die Wendung, die es nimmt. Mit Vehemenz haben sich diesmal Psychotherapeuten zu Wort gemeldet und über das bloß juristische Argument der Körperverletzung hinaus die möglichen seelischen Folgen des Eingriffs betont. Der Arzt und Psychoanalytiker Matthias Franz spricht in der FAZ von "ritueller Kastrationsandrohung", er rückt die Beschneidung in die Nähe sexueller Gewalt und sieht in der " kollektiven sexualtraumatischen Erfahrung" der Knabenbeschneidung auch eine Ursache für Frauenunterdrückung und übertriebenen männlichen Ehrbegriff. Auch der Therapeut Wolfgang Schmidbauer findet in der Süddeutschen Zeitung drastische Worte für das "inhumane" Verfahren, das ganz klar traumatisierend sei. Er scheut - als Einziger - auch den Vergleich mit weiblicher Genitalverstümmelung nicht.

Das Beschneidungsritual schürt offenbar Kastrationsängste, und dem scharfen Ton nach zu urteilen bedroht es gleichermaßen beschnittene wie unbeschnittene Männer. Dass darüber aber offen gesprochen wird, ist neu. Vor zehn Jahren wäre eine breite Diskussion über mögliche traumatische Folgen der männlichen Beschneidung überhaupt nicht möglich gewesen. Man merkt der Debatte heute an, wie viele sensible Themen mittlerweile durch die Diskursmaschinerie gelaufen sind. Vor allem der Skandal um sexuellen Missbrauch in der Kirche vor zwei Jahren hat eine empathische Perspektive aufs Kind forciert und das Bild männlicher Sexualität verändert. Mittlerweile können Buben und Männer auch Opfer sein.

Man mag sich über die Einlassungen der Psychologen mokieren, wie etwa Harald Martenstein, der den unglücklich beschnittenen Männern zur plastischen Chirurgie rät. Und natürlich ist der von Freud propagierte Kastrationskomplex auch eine mythische Kategorie. Trotzdem sind die psychologischen Einwände ernst zu nehmen, vor allem der dringende Hinweis darauf, dass das Alter, in dem die Beschneidung stattfindet, entscheidend sei. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt der diffusen Körperwahrnehmung ist sie definitiv weniger verstörend.

Juristisch bald geschlichtet

Der juristische Streit um die Beschneidung wird aller Voraussicht nach rasch beendet werden. Die deutsche Bundesregierung hat angekündigt, so schnell wie möglich für Rechtssicherheit zu sorgen. Tatsächlich wäre der politische Flurschaden enorm, den ein Beschneidungsverbot anrichten würde, und daher wird man in der Güterabwägung zwischen der körperlichen Unversehrtheit des Kindes, dem Erziehungsrecht der Eltern und der Religionsfreiheit wohl rasch eine Regelung zugunsten der Religionsfreiheit finden.

Aus der "pornografischen" Seite der Debatte könnte man aber gelernt haben, dass es bei der Beschneidung nicht nur um Körperverletzung oder Markierung durch Religion geht, sondern auch um den symbolischen Umgang mit Sexualität und die zivilisatorische Wirkung von Empathie. Tatsächlich wäre ja zu fragen, ob Geschlecht durchs Stahlbad initiierender Verletzung hindurch muss. Sie nährt ja allererst das Fantasma von Potenz und Impotenz.

In seinem Roman Die Beschneidung beschreibt der ungarische Schriftsteller György Dalos einen kleinen pummeligen jüdischen Jungen, dessen Zirkumzision versehentlich verzögert wurde. Mit der Unterstützung seiner Großmutter gelingt es ihm, zu retten, was zu retten ist. Dieser individuelle Sieg über den Ritus macht ihn nicht zum Mann, sondern zum Menschen. Bei allem Respekt für religiöse Sitten: Das klingt nach einer sympathischen Alternative. (Andrea Roedig, DER STANDARD, 25.7.2012)