"An einem ungewöhnlich heißen Frühlingstag erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer." Sie gingen zu einer Getränkebude, bekamen dort jedoch kein kaltes Bier, "'ham wir nicht', antwortete die Frau im Büdchen und war komischerweise beleidigt", nur warme Marillenlimonade, und so setzten sie sich am Rande der Bronnaja-Straße auf eine Bank, mit Blick auf den Teich.
So beginnt Michail Bulgakows großer Roman "Der Meister und Margarita". Um die Atmosphäre des Buches nachzuerleben, pilgern heute viele Leser zum Wasser, kehren in das offenbar speziell für sie eröffnete "Café Margarita" ein, suchen vielleicht die Bude. Die gibt es nicht mehr. Dafür aber gibt es in den kleinen Supermärkten "Produktij", genügend kalte Limonade und sicher auch eisgekühltes Bier, von Hochprozentigerem ganz zu schweigen. Ansonsten mag es sein, dass sich in der Umgebung des Wasserreservoirs, in dem einst Fische für den Moskauer Patriarchen gehalten wurden, nicht viel geändert hat, seit Bulgakow hier seine teuflische Handlung angesiedelt hat: wenig Verkehr, viele Flaneure und spielende Kinder, ein Betrunkener, der auf einer Parkbank seinen Rausch ausschläft.
Ungebremste Modernisierung und Platz für Altes
Würde Bulgakow jedoch heute seine Wohnung ganz in der Nähe, Gartenring 10, verlassen, er würde die Umgebung kaum wiedererkennen. In seinem großen Jugendstilhaus logieren eine Espressokette namens "Kofi Chaus", eine Apotheke, ein Reisebüro, überall prangt Reklame. Auf die andere Straßenseite zu kommen, hätte er keine Chance. Ungebremst flutet der Autoverkehr zwischen dem Kudrinskaya-Platz und dem Triumphplatz, und um auf diesem zum Denkmal seines Kollegen Majakowsky zu gelangen, müsste er sich jetzt mühsam um Bauzäune herum seinen Weg suchen.
In dieser Spannung würde Bulgakow heute in Moskau leben. Und etliche Schriftsteller tun es wohl – in einer Stadt, die auf ungebremste Modernisierung setzt, die aber so groß ist, dass viel Altes noch übrig bleibt und in Nischen weiterlebt. Da kann es schon einmal passieren, dass man an hochglanzpolierten Fassaden und Betonhochhäusern vorbeigeht und plötzlich auf ein altes russisches Holzhaus stößt. Und immer noch gibt es intakte Nachbarschaften, die nur gelegentlich von neureichen Exzessen unterbrochen werden – zum Beispiel hier, westlich bis nordwestlich des Kreml, in den Bezirken Arbat und Presnensky, wenigstens in dem Teil, in dem der Patriarchenteich liegt.
Die Bezirke, die sogenannten Rayons, sind weniger wichtig. Der Besucher orientiert sich besser an den großen Plätzen und ihren üppigen Metrostationen. Arbatskaya also, ein Platz und eine fünfkantige U-Bahn-Haltestelle, von deren Empfangssaal mit Kuppel und rotem Stern es mehr als 40 Meter in die Tiefe geht. Hier wäre der Ort, ein Loblied auf die Moskauer Metro anzustimmen. Aber das ist eine andere, schon oft erzählte Geschichte. Wir bleiben oben und überqueren den Platz in Richtung Westen.
Erste Adresse für die Boheme
Das postsowjetische Moskau braust in alle Richtungen, doch schon nach wenigen Metern geht es nach rechts durch einen Torbogen – in dieser Stadt oft ein Sesam zu einem urbanen Kontrastprogramm – in große, parkartige Innenhöfe. Ein Haus steht hier, mittlerweile ein Museum, in dem der Dichter Nikolai Gogol seine letzten Monate verbrachte. Ihm ist eine Statue gewidmet: Er sitzt da, gekrümmt und ausgezehrt, während sich unter ihm auf einem Relieffries feiste Charaktere aus seinen Geschichten tummeln.
Die Kirche, in die er regelmäßig ging, Symeon Stylites, steht ganz in der Nähe. Wie ihre Geschichte die des ganzen Landes wiedergibt, lässt sich nachlesen: 1679 eingeweiht, 1940 geschlossen, devastiert, 1966 restauriert, zum Saal der Naturschutzgesellschaft umfunktioniert, 1992 der russisch-orthodoxen Kirche zurückgegeben. Und teilweise sieht man es vor sich: Direkt dahinter wurden Plattenbauten hingestellt, die jetzt eine unüberwindbare Kulisse für die fein gegliederte Kirche mit ihren grünen Zwiebeltürmchen abgeben.
Unweit beginnt die Straße, dem das Viertel seinen Namen verdankt: der Arbat. Ursprünglich die Ausfallstraße Richtung Smolensk, wandelte sich der Arbat mit seinen Quergassen im 19. Jahrhundert zur ersten Adresse für die Bohème und die Intelligenzija der Stadt. Sie verließen die Gegend auch nicht, als Kommunalwohnblöcke die traditionellen Bauten zu verdrängen drohten. Es blieb noch genug stehen, um den Arbat – seit 1980 die erste Fußgängerzone der Sowjetunion – in ein Freilichtmuseum der Architektur zu verwandeln. Die Straße wurde autofrei und mutierte zur Vergnügungszeile für Touristen. Der Verkehr wird seitdem über eine andere Achse, den neuen Arbat, geleitet.
Nördlich davon liegt eine Nachbarschaft, deren Gelassenheit ein Bollwerk gegen die schnelle Metropole bildet. Das Angebot ist durchaus westlich: Ein Gartencafé hat Jazz im Programm, an der Bolschaja Nikitskaja steht noch eines mit sehr passablem Mittagsmenü und erstklassigem Espresso. Im Vergleich zu dem, was man über Moskauer Exzesse hört, sind die Preise übrigens moderat. Kurz: Der Kaffee kostet umgerechnet zwei Euro. Und man trinkt ihn in Sichtweite eines schon wieder thronenden Literaten. Diesmal ist es Tolstoi – allerdings nicht Lew, sondern Alexei, ein entfernter Verwandter.
Er schaut auf die Kirche gegenüber. Ein Stückchen weiter links würde sein Blick auf erstaunliche Jugendstilbauten fallen, vor allem auf die späte Wohnstätte von Maxim Gorki. Sie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Villa für einen Moskauer Millionär errichtet. Ein immer noch fast intaktes Juwel mit schmiedeeisernem Gitter, Fassadenmalereien und blumigen Fenstern. 1931 bekam Gorki sie von Stalin geschenkt, bewohnte sie bis zu seinem Tod, soll sich aber nie wohlgefühlt haben: zu viel bürgerliche Pracht. Außerdem wurde der Schriftsteller vom Geheimdienst beobachtet. Die Gerüchte, dass er vergiftet wurde, sind bis heute nicht verstummt. Heute ist das Haus in der Malaja Nikitskaja 6/2 ein Gorki-Museum.
Überraschende Durchblicke
In der angrenzenden Granatny-Gasse gerät man in einen baulichen Showdown: Links steht eine Villa aus dem späten 19. Jahrhundert, eine kuriose Kombination aus Neugotik und russischen Motiven, asymmetrisch und voller verspielter Details; daneben ein strenger Zubau aus Sowjetzeiten mit Portalbögen und einer Fassade aus roten Keramikplatten – insgesamt ein Stück Postmoderne "avant la lettre".
Rechts wiederum befindet sich ein Neubau aus Glas, Beton und Steinplatten, die von überdimensionalen Figuren unterbrochen werden. Irgendwie konnten sie sich nicht so recht zwischen Art déco und griechischer Klassik entscheiden. Ob das Ganze nun für Büros oder für Wohnungen gedacht ist, lässt sich nicht ausmachen. So wenig gibt das Gebäude von sich preis.
Die stilistische Auseinandersetzung geht, wenn man möchte, am Ende der Granatny weiter. Dort stößt man nämlich auf den Gartenring und hat eine der sogenannten "sieben Schwestern" vor sich: die stalinistischen Monumentalbauten, die der Stadt unübersehbare Bezugspunkte beschert haben. Das Kudrinskaja-Wohnhaus, 156 Meter hoch, konkurriert mittlerweile mit der Novinskij-Passage, einem modernen Einkaufszentrum.
Zurück nach Presnensky. Man könnte sich in den vielen Parks und Passagen verlieren. Durchblicke öffnen sich auf Villen, Kirchen – und natürlich auch auf eine Limonadenbude. Es gibt gewiss spektakulärere Rayons in Moskau, mit so viel Pomp und Gold, dass einem der Atem stockt. Aber der Meister wird schon gewusst haben, warum er es sich gerade hier hat gutgehen lassen – und den anderen schlecht. (Michael Freund, Album, DER STANDARD, 21.7.212)