"Nun sind die wenigen Unabhängigen dran": Sonia Koschkina.

Screenshot: DER STANDARD/Cremer

STANDARD: Nach der Anzeige gegen TVI und LB.ua wurde der Sender am Freitag in elf Großstädten ohne Vorwarnung vom Netz genommen. Was passiert in der Ukraine?

Koschkina: Kritische Journalisten sollen in der Ukraine zum Schweigen gebracht werden. TV1 und LB.ua gehören zu den beliebtesten Medien im Land. Nur wenige berichten kritisch über die Vorgänge im Land. Unsere Website hatte zuletzt 2,3 bis 2,5 Millionen Besucher pro Monat. Nachdem die Regierung in den vergangenen zwei Jahren etliche regionale Medien aus- oder gleichgeschaltet hatte, sind nun die wenigen, unabhängigen Berichterstatter dran. Die Behörden verfolgen das Prinzip der sterilen, kontrollierten Medien.

STANDARD: Gegen Sie läuft ein Verfahren wegen Verletzung des Briefgeheimnisses. Ihre Zeitung hat Aufnahmen vom Handydisplay des Parlamentsabgeordneten Volodimir Landik veröffentlicht. Er hat seine Anzeige zurückgezogen, weshalb hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren nun doch eröffnet?

Koschkina: Vieles deutet darauf hin, dass das nicht die Behörden, sondern die Politik entschieden hat. Am 19. Juli veröffentlichte Viktor Janukowitschs Pressestelle die Aufforderung des Präsidenten an den Generalstaatsanwalt, die Rechtmäßigkeit der Strafsachen gegen TV1 und LB.ua zu prüfen. Keine zwei Stunden später stellte sich der Kiewer Staatsanwalt vor die Presse und gab vor, die Beschuldigungen gegen die Medienunternehmen seien nicht politisch motiviert. Seltsam ist, dass Volodimir Landik seinen Strafantrag bereits im November 2011 gestellt hat. Die strafrechtliche Verfolgung begann aber erst im Juni 2012. Nun hat die Staatsanwaltschaft innerhalb eines Tages vier verschiedene Daten angegeben, wann Landik die Klage angeblich eingereicht hat.

STANDARD: Ende Juni überraschte Ihr Auftritt in einer TV-Talkshow, live via Skype aus Italien. Sie sagten, Sie könnten derzeit nicht in die Ukraine zurück. Wo sind Sie derzeit?

Koschkina: Ich habe in Italien erfahren, dass Ermittlungen gegen mich begonnen haben. Zu meiner eigenen Sicherheit kann ich nicht sagen, wo ich derzeit lebe. Außer mir halten sich drei weitere Mitglieder unserer Redaktion im Ausland auf. Ich überlege ernsthaft, in einem europäischen Land Asyl zu beantragen. Ich bin über meine Zukunft und die meiner Kollegen und Freunde sehr besorgt.

STANDARD: Sind Sie allein, oder haben Sie Menschen oder eine Organisation, die Sie unterstützen?

Koschkina: Derzeit unterstützen mich Menschen, die ich seit vielen Jahren kenne und denen ich vertraue. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in die Lage komme, mein Land unter diesen Umständen verlassen zu müssen. Die Situation, die ich derzeit durchmache, kenne ich nur aus Filmen.

STANDARD: Was passiert, wenn Sie in die Ukraine kommen?

Koschkina: Ich würde sofort von der Polizei in Gewahrsam genommen, müsste meinen Reisepass abgeben und schriftlich erklären, das Land nicht zu verlassen. Danach würde die Gerichtsverhandlung beginnen und eine Haftstrafe bis zu sieben Jahre auf mich warten. Wir Journalisten haben nicht genug Ressourcen, um gegen diese Maschine anzugehen.

STANDARD: Was wird aus der Zeitung LB.ua? Was erwartet Ihre Kollegen, die noch im Land sind?

Koschkina: Meine Kollegen sind in Gefahr. Auch mein Kollege, Maxim Lewin, der Fotograf, der im November die Aufnahmen von Landiks Handydisplay gemacht hat, ist im Ausland. Wir glaubten, dass es in einem unfreien Land freie Medien geben könnte. Nun überlegen wir, ob LB.ua aus dem Ausland weiter berichten soll, das wäre die einzige Möglichkeit, unsere Leser weiter zu versorgen.

STANDARD: Derzeit gibt es in der Ukraine nur vereinzelt Proteste, warum gibt es keine Bewegung?

Koschkina: Die ukrainische Regierung hat es in nur zwei Jahren geschafft, Angst in der Gesellschaft zu verbreiten. Als Ministerpräsident Nikolai Asarow 2010 verkündete, die Regierung würde das Gefühl der Angst dazu nutzen, die Gesellschaft zu lenken, hat das keiner ernst gekommen. Wir hätten wachsamer sein müssen. (Nina Jeglinski, DER STANDARD, 23.7.2012)