In der Darstellung der syrischen Opposition, die alle Ängste die Post-Assad-Zeit betreffend zerstreuen will, haben die Volksgruppen in Syrien vor Assad in Harmonie gelebt, in die man ohne Assad zurückfinden würde. Sektierertum, Konfessionalismus seien nur ein Resultat der alawitischen Diktatur, Alawiten und Sunniten hätten zuvor keine Probleme gehabt.
Um das zu behaupten, bedarf es einer großen Portion Geschichtspopulismus. Vieles in der modernen syrischen Geschichte erklärt sich gerade aus der Existenz der Alawiten als in schlechteren Zeiten verfolgter, in besseren marginalisierter Gruppe. In das Alawitengebirge über Latakia zogen sie sich zurück, um Schutz zu suchen, und bildeten mit der Zeit vier größere Stammeskonföderationen: Khayyatun, Haddadun, Matawira, Kalbiya - zu Letzterer gehören die Assads.
Richtig ist, dass die Alawiten im Syrien des 19. und 20. Jahrhunderts konfessionell nicht so abgeschlossen lebten wie die Drusen oder die Ismailiten, sondern auch in gemischten Städten. Es war jedoch eine Klassengesellschaft: Arme alawitische Bauern, die für sunnitische Grundherren arbeiteten, gaben ihre Töchter bei Sunniten in den Dienst.
Die Wende - und der Weg eines alawitischen Soldaten an die Macht - wurde in der französischen Mandatszeit eingeleitet. Die französische Minderheitenpolitik war darauf angelegt, den arabischen Nationalismus zu schwächen. Religiöse Minderheiten waren aus diesem Nationalismus nicht a priori ausgeschlossen - aber nicht der nationalen arabischen Religion, dem sunnitischen Islam, anzugehören, war eindeutig ein Defekt.
Partei für Underdogs
Einschub: Das erklärt auch den späteren großen Zulauf von Christen, Schiiten und anderen religiösen Underdogs in der sunnitischen Gesellschaft in die Baath-Partei, die 1940 in Damaskus gegründet wurde: In der Baath war der sunnitische Islam nicht nationale Religion, sondern nationale Kultur, der sich auch ein Nichtsunnit zugehörig fühlen konnte.
Die Franzosen, ab 1920 Mandatsherren, ermutigten die Alawiten jedenfalls, in die syrische Armee einzutreten, was sie - auch getrieben von der Armut - in wachsender Zahl taten. Als in dem instabilen Syrien der Nachkriegszeit die Armee eine immer größere Rolle spielte, kamen damit auch Alawiten nach oben.
Wobei die Zeit zwischen 1963 und 1970 eine der inneralawitischen Fraktionskämpfe waren, aus der Hafiz al-Assad gegen seinen alawitischen Rivalen Salah Jadid siegreich hervorging. Als Assad in den Jahren danach seine Position konsolidierte, waren auch viele Alawiten, die er als Bedrohung ansah, seine Opfer. Gleichzeitig wurde die syrische Armee endgültig "alawitisiert".
Alawitische Autonomie
Viel war zuletzt die Rede vom "Alawitenstaat", in den sich das Regime mit seinen Anhängern zurückziehen könnte, wenn sie das übrige Syrien verlieren, und einige Aktionen der alawitischen Shabeha-Milizen, die nach konfessioneller Säuberung aussahen, ließen das plausibel erscheinen.
Dieser Alawitenstaat - ein autonomes alawitisches Territorium unter französischer Kontrolle - ging 1936 im unabhängigen Syrien auf, und diese Entwicklung war Anlass für ein Schreiben alawitischer Honoratioren an die Franzosen, das jetzt wieder die Runde macht. Denn einer der Unterzeichner war Sulayman al-Assad, Vater von Hafiz und Großvater von Bashar.
Der Brief war ein Plädoyer für eine alawitische Unabhängigkeit, und was ihn historisch so interessant macht, ist, dass die Unterzeichner "die guten Juden", die Wohlstand nach Palästina gebracht hätten, vor dem militanten Islam warnten, dem sie letztlich alle - Juden und Alawiten und Christen, alle Minderheiten - zum Opfer fallen würden.
Dieses Syrien, das Sulayman nicht wollte, wurde dann von seinem Sohn und seinem Enkel mehr als vier Jahrzehnte lang regiert. Die Idee von der Schicksalsgemeinschaft der Juden und der Alawiten griff übrigens Palästinenserführer Yassir Arafat später auf: Im Eingreifens Syriens gegen die Palästinenser im libanesischen Bürgerkrieg, womit Syrien sich ja gegen die Feinde Israels stellte, sah Arafat eine alawitisch-jüdische Verschwörung. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 23.7.2012)