Österreichs Regierung kupfert gerne vom großen Bruder ab. Doch derzeit werden die Koalitionäre mit Besorgnis nach Deutschland blicken, zumal dort Unerhörtes passiert. Wieder einmal, diesmal bei der Spanien-Hilfe, stellte sich eine zweistellige Zahl an Regierungsabgeordneten im Bundestag offen gegen die europapolitische Linie der eigenen Kanzlerin - ohne sich bei der entscheidenden Abstimmung verschämt aufs Klo zu verziehen.

In Österreich wäre das undenkbar. Bevor sich Volksvertreter erdreisten könnten, ihr freies Mandat in Anspruch zu nehmen, wenden die Wächter über die Parteidisziplin das ganze Repertoire an Überredungskünsten an, notfalls auch in einem strengeren Ton. Potenziellen Abweichlern drohen Beichtstuhlgespräche, SMS-Attacken, gruppendynamischer Druck - und womöglich die Tilgung von der Kandidatenliste für die nächste Wahl.

Natürlich hat die Freiheit auch in Deutschland rasch Grenzen, wenn die Mehrheit wackelt. Doch hierzulande besitzen die Koalitionsparteien nicht einmal die Größe, Dissidenz zu dulden, wenn sie vor einer g'mahten Wiese stehen. Während es im Deutschen Bundestag zu Fiskalpakt und Co Debatten quer durch die Fraktionen gab, hielt die SPÖ die einzige deklarierte Kritikerin vom Rednerpult fern.

Will die Regierung wirklich die Demokratie fördern, kann sie - ganz ohne komplizierte Verfassungsreform - sofort damit beginnen: bei der eigenen politischen Kultur. (Gerald John, DER STANDARD, 21.7.2012)