Keine Stifte, kein Kuli, kein Papier

Foto: Malte E. Kollenberg

In 300 "Smart Schools" wird in Korea nur noch per Computer unterrichtet.

Foto: Malte E. Kollenberg

Für den 14-jährigen Park Seok-yeon hat die Zukunft bereits begonnen. Er gehört zu den ersten im Land, die "digital" die Schul- bank drücken, an der Sukjung Mittelschule, in Incheon. "Smart School", intelligente Schule, nennt sich das in Korea. 300 Testschulen gibt es bereits im ganzen Land. Bis 2015 sollen alle gut 11.000 Schulen des Landes digitalisiert werden. So sieht es der Plan des Bildungsministeriums vor.

Papier und Stifte sollen aus den Klassenräumen verschwinden. "Grün" sollen die Schulen werden. "Wenn in den Klassenzimmern kein Papier verbraucht wird, ist das natürlich gut für die Umwelt", erklärt Park Pil-ju vom koreanischen Umweltindustrie- und Technologie-Institut (KEITI). "Doch", fügt er hinzu, "Umweltverschmutzung tritt auch durch die Produktion und den Gebrauch von Computern auf. Und die sind unabdingbar für ein elektronisches Klassenzimmer." Der Experte spricht sich deshalb dafür aus, beide Szenarien in einer Studie zu vergleichen und nicht von vornherein eines als umweltschonender zu deklarieren.

Positive CO2-Bilanz

Einer drei Jahre alten Studie der Cleantech Group aus San Francisco zufolge ist man mit einem E-Book-Lesegerät bereits nach 23 Büchern auf der grünen Seite - zumindest wenn es um die CO2-Bilanz geht. Fachübergreifend und über Klassen hinweg, könnte ein elektronischer Klassenraum also durchaus Sinn haben.

"Ich habe Englisch noch mit einem Buch aus Papier gelernt", lächelt die Englischlehrerin Yeo Mi-jung. Sie habe "ein wenig Angst" vor dem digitalen Klassenraum gehabt, gibt sie zu. Die 29-Jährige erzählt von älteren Kollegen, die dem Projekt auch nach einigen Testmonaten sehr skeptisch gegenüberstünden.

Yeo Mi-jung kommt mit der neuen Technik bereits bestens klar, sagt sie. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sei das alles kein Problem. Als unterrichte sie seit Jahren mit der digitalen Tafel, wischt sie über den Bildschirm. Die Aufgaben für die Schüler tippt sie im 90-Grad-Winkel auf der virtuellen Tastatur in das digitale Textbuch. Auch für die Schüler wird es nun interaktiv. Beispiel Englisch: Lösen sie eine Aufgabe im " Arbeitsbuch", antwortet das Schulbuch: "großartig". "Bitte noch einmal", wenn der Schüler nicht korrekt geantwortet hat.

Doch was zukunftsweisend klingt, ist unter Umständen alles andere als förderlich für die Schülergesundheit. Park Seok-yeon hat schon in den ersten Wochen in der Testklasse mit den Nebenwirkungen des Computerlernens zu kämpfen. "Ich finde den digitalen Unterricht anstrengend, weil meine Augen schnell ermüden, wenn ich die ganze Zeit auf den Bildschirm schaue." Experten nennen diesen Effekt Benetzungsstörung oder Trockenes-Auge-Syndrom. "Zu lange auf den Bildschirm zu schauen kann die Augen austrocknen, weil die Blinzelfrequenz abnimmt", erklärt Bae Cheong-hun, Augenarzt im Kangbuk-Samsung- Krankenhaus in Seoul.

"Schulsystem reformieren"

Ungeachtet solcher Probleme geht der digitale Klassenraum für Kim Deong-sik, Professor für Educational Technology an der Seouler Hanyang-Universität, ohnehin in die verkehrte Richtung. Er fordert ein Umdenken im Land: "Das gesamte Schulsystem muss reformiert werden." Der Forscher hat seine Zweifel, ob Korea mit der flächendeckenden, ersatzlosen Einführung der digitalen Schulbücher den richtigen Weg einschlägt. Das Wichtigste sei nicht die Frage, ob digital oder analog, glaubt er. "Die jungen Menschen müssen zu selbstständigem Denken angeregt werden, nicht zu einfacher Replikation." Nachhaltigkeit ist für Kim etwas anderes. Für ihn steht fest: Die Einführung des "digitalen Textbuches" in Korea soll in erster Linie die technische Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren.

Die Regierung gibt sich weit optimistischer. Vom "grenzenlosen Klassenraum" und dem "Lernen außerhalb der Schule" träumt Bildungsminister Lee Ju-ho im von ihm 2011 herausgegebenen Buch Positiver Wandel - Die Bildungs-, Wissenschafts- und Technologiepolitik Koreas. Lernen soll so allgegenwärtig und selbstverständlich werden wie die Benutzung des Mobiltelefons. In seiner Vision sitzt Park Seok-yeon, wenn er für die koreanische Matura büffelt, nicht mehr nur im grünen Klassenraum - sondern wirklich im Grünen. (Malte E. Kollenberg aus Seoul, DER STANDARD, 18.7.2012)