Wien - Wer sich darüber freut, dass es im zeitgenössischen Tanz zur Zeit eine Vielfalt gibt wie selten zuvor, kann das mit gutem Grund tun. Denn was sich nicht nur jetzt bei Impulstanz in Wien zeigt, sondern auch in den Kuratierungen anderer Festivals oder Häuser, die Gegenwartschoreografie präsentieren, ist nicht weniger als eine Stabilisierungstendenz innerhalb des gesamten Kunstfeldes Tanz.

In Krisenzeiten wie diesen klingt der Begriff "Stabilisierung" wohltuend. Den Tanz treibt seit Beginn der Nuller Jahre ein komplexes Spiel freier ästhetischer Kräfte an. Begonnen hat dieses 2001 mit einem Schlüsselwerk des französischen Choreografen Jérôme Bel, The Show Must Go On!, dem Höhe- und Wendepunkt der manchmal sogenannten "Dritten Avantgarde" in der internationalen Choreografie.

Die Nuller Jahre brachten später einerseits die Aufarbeitung dieser Avantgarde, die vor allem in den Neunzigern die Weichen neu gestellt hat, zum anderen eine größere Aufmerksamkeit für den Tanz im Allgemeinen. Letzeres auch als direkte Folge der Debatten, die damals losgetreten wurden, weil die neue Choreografie die Sehgewohnheiten im Tanz konsequent irritierte. Dadurch entstanden für neue Generationen von Tanzschaffenden ästhetische Freiheiten, die sich nun nach einem Jahrzehnt in der aktuellen Pluralität eines überwiegend hoch qualitativen Angebots niederschlagen.

Eine weitere Folge dieser Neuorientierung ist seit Mitte der Nuller Jahre das neue Interesse im Tanz an der eigenen Geschichte. In Deutschland hat das sogar zu einer eigenen Budgetierung der Kulturstiftung des Bundes geführt, dem im Vorjahr eingerichteten und bis 2014 laufenden sogenannten "Tanzfonds Erbe" von 2,5 Millionen Euro. Diese Institutionalisierung wird auch kritisiert. Vor allem, weil zugleich die Mittel zur Förderung zeitgenössischer Arbeit gerade in der aufblühenden Berliner Szene viel zu knapp gehalten werden. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob derlei themengebundene Großinvestitionen die freie Kunst hier zu sehr lenkt und damit einschränkt.

Darüber hinausgehend steht eine weitere Frage im Raum, die direkt an der Freude über die angesagte Vielfalt kratzt: Ist die gegenwärtige Tendenz zur Stabilisierung bereits ein Vorzeichen für eine kommende künstlerische Beliebigkeit? Denn es gibt auch Tendenzen, vor allem in den Kulturpolitiken verschiedener europäischer Länder, freie Choreografen an die pragmatische Kandare zu nehmen: von ihnen immer mehr Daten - etwa bis hin zu den Auslastungen ihrer Vorstellungen - zu verlangen, sie in einen pedantischen Rechtfertigungsapparat einzuzwängen und ihre Kreativität durch überbordende administrative Rahmensetzungen zu planieren.

Dieser wachsende Verwaltungsdarwinismus, in dem nur freie Choreografen überleben können, die dem anschwellenden Papierkrieg gewachsen sind, stellt ein ernstes Problem dar - gerade für die Vielfalt im künftigen zeitgenössischen Tanz. Zu verlieren gibt es viel, vor allem für das Publikum: die Qualität im Entwickeln neuer künstlerischer Formulierungen und die dafür notwendige Risikobereitschaft unter den Künstlern. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 18.6.2012)