Die steigende Zahl der Verschreibungen von Psychostimulanzien an Kinder löst eine gewisse Sorge aus. Insbesondere die Steigerung der Ausgabe von Methylphenidat in Deutschland von 1.500 Kindern (1990) auf 50.000 Kinder (2003) beziehungsweise die Steigerung des Verbrauchs von 34 Kilogramm (1993) auf 1.429 Kilogramm (2007) sollte auch hartgesottenen Medizinern zu denken geben.

Von dieser Behandlung verspricht man sich eine Verbesserung der Aufmerksamkeit, eine Steigerung der Impulskontrolle und eine gleichzeitige Senkung der Hyperaktivität bei sogenannten ADHS-Kindern, die zum größten Teil Jungs sind.

Die bewegungsunruhigen bzw. unaufmerksamen Kinder gab es natürlich schon immer, wenn auch ohne die dazugehörige Aufregung, die im Moment darüber herrscht. Im Laufe der Epochen wurden den Kindern unterschiedliche Bezeichnungen gegeben (MBD, MCD, POS), die sich jedoch nicht halten konnten. Man wird sehen, wie es der derzeitigen Modediagnose ADHS ergeht, die infolge der beginnenden Vermarktung der Medikation zunehmend Bedeutung erlangte.

Mithilfe differenzierter Diagnosesysteme lassen sich die entsprechenden "Defizite" der ADHS-Kinder relativ leicht ausmachen und diagnostizieren. Die Frage entsteht jedoch, ob bei Prävalenzraten (Krankheitshäufigkeit) von zehn Prozent und mehr eine Abgrenzung zum Begriff der Normalität noch sinnvoll ist. Insbesondere das männliche Geschlecht droht mit dieser mittlerweile "Allerweltsdiagnose" zu einem hohen Prozentsatz pathologisiert zu werden. Man bewegt sich damit in einem Übergangsbereich zwischen Behandlung und Enhancement (Leistungssteigerung) bei Kindern, die den Anforderungen des Bildungssystems nicht gerecht werden.

Die Nationale Ethikkommission der Schweiz im Bereich Humanmedizin (NEK, Bern 2011) weist zu Recht auf die Gefahren hin, negativ in die Entwicklung der Kinder einzugreifen und dadurch gesellschaftliche "Shifts" zu produzieren. Ersteres betrifft den Vorenthalt wichtiger Lern- und Entwicklungserfahrungen, genau diese Fähigkeiten (Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Affektregulation) im Kontext von Beziehung einzuüben und zu lernen.

Wie der bekannte Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther immer wieder betont, bedarf es emotional wichtige Beziehungserfahrungen, durch die sich eben diese höheren neurologischen Funktionen im Frontalhirn etablieren können. Eine medikamentöse Behandlung bewirkt nicht das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrolle, sondern belässt das Kind in der Abhängigkeit seiner ungestümen Innenwelt, der scheinbar nur medikamentös zu begegnen ist.

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Verzerrung gesellschaftlicher Vorstellungen und Standards, was als normal und pathologisch zu gelten hat. Die Ruhigen und Angepassten unter den Kindern (vielfach die Mädchen) werden es in einem Bildungssystem leichter haben, welches unter dem neoliberalen Primat von Effizienzsteigerung und Prozessoptimierung die Anforderungen immer weiter nach oben schraubt, Bildungsprozesse vorrangig als Wissensvermittlung missversteht und ihre persönlichkeitsreifende Wirkung übersieht.

Und ja, es gibt wirklich Jungs, die durch ihre Hyperaktivität und ihre eingeschränkten Fähigkeiten, ihre Affekte und Impulse zu regulieren bzw. über sich und andere nachzudenken, mal stärker, mal schwächer beeinträchtigt sind. Wir sehen sie in den sonder- und heilpädagogischen Einrichtungen beziehungsweise in den psychotherapeutischen Praxen, wo sie aufgrund der Probleme in Schule und Familie vorstellig werden. Was Praktikern dabei auffällt, sind vor allem Schwierigkeiten im Beziehungsumfeld der Kinder, die sich folgendermaßen konstellieren:

1. In Familien mit ADHS-diagnostizierten Kindern gibt es sehr häufig persistierende innerfamiliäre, aber auch transgenerationale Konflikte bzw. Traumen, die nicht bearbeitet werden können und die Dynamik der Familieninteraktionen grundlegend mitbestimmen. Die Elternbeziehung ist dadurch häufig stark beeinträchtigt.

2. Kinder mit der Diagnose ADHS haben meist eine sehr enge Beziehung zu ihren Müttern, die sich durch die Gleichzeitigkeit von großer Abhängigkeit und Anhänglichkeit sowie starken Loslösungs- und Individuationsimpulsen kennzeichnet.

Nicht selten ergibt sich aus den Elternkonflikten (siehe Punkt 1) eine Parentifizierung des Sohnes, der quasi als Partnerersatz den fehlenden Mann ersetzen soll und häufig anstatt des Vaters wieder im Bett der Mutter landet (!).

3. Kinder mit der Diagnose ADHS haben entweder keine oder nur eine marginale Vaterbeziehung (siehe Punkt 2). Entweder der Vater fehlt komplett, oder er hat sich in seiner Enttäuschung aus dem Familienleben zurückgezogen.

Wenn noch eine Vater-Sohn-Beziehung besteht, ist diese meist gekennzeichnet durch eine extrem hohe Erwartungshaltung seitens des Vaters (das Idealselbst der Väter wird unbewusst auf die Söhne übertragen und dort unentwegt eingefordert), die der Junge nicht erfüllen kann. Es resultiert ein massiv geschädigter Selbstwert und ein Pendeln zwischen dem progressiven Wunsch, diesen Anforderungen zu entsprechen, und einem regressiven Abwenden in Richtung Primärobjekt (Mutter) und Primärbeziehung. Die Entwicklung einer reifen männlichen Identität über die Identifizierung mit männlichen Bezugspersonen scheitert.

Was also brauchen diese Kinder bzw. deren Familie?

Nach meiner Erfahrung und der vieler KollegInnen im sonder- und heilpädagogischen und psychotherapeutischen Bereich sowie den Befunden entwicklungspsychologischer und psychoanalytischer Forschung brauchen diese Kinder vor allem einigermaßen emotional stabile Umgebungsbedingungen über einen längeren Zeitraum.

Das impliziert eine Bearbeitung (transgenerational) familiärer Konflikte, die notwendige Ablösung von der Mutter und die Identifikationsmöglichkeit mit alternativen Bezugspersonen. Im Falle der Jungs sind dabei männliche Bezugspersonen wichtig, die sich als Identifikationsobjekte anbieten und im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung auch eine entwicklungsfördernde, begrenzende und haltende Funktion ausüben.

Diese Jungs sollten die Möglichkeit haben, sich an männlichen Bezugspersonen abzuarbeiten, mit ihnen zu rivalisieren, sich mit ihnen zu identifizieren und über sie hinauszuwachsen. Dafür braucht es auch engagierte Männer in der Familie, im Bekanntenkreis, in Vereinen und Institutionen. Über diese lernen die Jungs, mit ihrer ungestümen Motorik, ihren aggressiven Tendenzen und aufdrängenden Impulsen umzugehen und sich in der Folge Peer-Groups anzuschließen, in denen diese speziellen Verhaltensweisen (Rivalisieren, Kämpfen, Mutproben ...) weiterentwickelt werden.

Jungs mit ADH-Symptomatik scheitern jedoch häufig an der Auseinandersetzung mit männlichen Bezugspersonen und in der Folge an den Anforderungen der Peer-Group. Die Kinder identifizieren sich schließlich mit ihrer Diagnose ("Ich bin ein ADHS-Kind, bei mir stimmt was nicht im Kopf") anstatt mit Varianten von unterschiedlicher Männlichkeit.

Aus diesen Gründen spreche ich mich für eine gewisse Zurückhaltung und Vorsicht in der gängigen Verschreibungspraxis von Psychostimulantien an Kinder aus, die auf ein sich entwickelndes Gehirn einwirken. Vielmehr können Eltern von "Problemkindern" durch kritische Selbst- und Familienreflexion sowie die Zuhilfenahme von Beratungsstellen oft sehr viel mehr zu einer positiven Entwicklung ihrer Kinder beitragen, als sie vermuten.

Nicht zuletzt bedarf es einer deutlich stärkeren Beteiligung der Männer an Erziehungs- und Bildungsaufgaben in Familie, Kindergarten, Schule und Freizeit. (Bernd Traxl, Gastkommentar, derStandard.at, 17.7.2012)