Stirn an Stirn ein Tänzchen auf dem Gras: Der spätere Turniersieger Ali Gürbüz (li.) und Recep Kara.

Foto: Markus Bernath

Herr Balci mit der ölgetränkten Lederhose sitzt auf dem Kopf von Herrn Okulu. Eine in mehrfacher Hinsicht unkomfortable Position, die Punkte bringt, aber auch ein gewisses Risiko, wie man gleich sehen wird. Öl und Schweiß tropfen, die Musiker auf der anderen Seite des Feldes schlagen jetzt noch sehr viel schneller auf ihre Pauken ein, Orhan Okulu trennen nur Millimeter von der Niederlage. So fest drückt der Gegner seinen Kopf in das Gras, hält mit Armen und Händen auch noch seinen Rücken nieder, dass dem Halbschwergewichtler Okulu aus der Provinz Antalya die Luft wegbleiben muss. Aber die Statik ist ein Hund. Irgendwie bäumt sich der Mann im Gras noch auf und legt einen Wurf hin, gegen den Onur Balci nichts mehr ausrichten kann. Punkt, Sieg, Ende.

Ausgabe 651 des Ringerwettkampfs von Kirkpinar bei Edirne im europäischen Teil der Türkei rückt dem Ende näher. Wahnsinnig viel hat sich seit 1361 nicht geändert. "Die Holztribünen sind weggekommen", überlegt Ali Bulut, der Oberschiedsrichter. Jetzt gibt es eben ein kleines Stadion aus Beton um das Grasfeld vor Edirne, eine Seite für Politiker und andere wichtige Menschen, drei Seiten für die Fans. Und die Regel mit den maximal 30 Minuten ist eingeführt worden, damit ein Kampf nicht endlos geht. Aber sonst: gleiches Öl, gleiche Lederhosen, gleiche Technik. Kirkpinar ist die ständige Wiederholung.

Kühlschränke vs. Dickbäuche

Auf dem Feld gibt es Männer, die das Format eines Kühlschranks haben, und andere, deren Bauch doch deutlich über die Hose hängt. Das ist kein Nachteil, zumindest in der Anfangsphase des Turniers, wenn die Dicken mit einer Kombination aus Schubkraft und Standvermögen über die Runden kommen. Bauch haben heißt nicht fit sein, sagt aber Bulut, der Schiedsrichter. Nach 60 Wettkämpfen im Jahr im ganzen Land wisse man schon ungefähr, wer ins Finale kommt. Leute wie Ali Gürbüz aus Antalya, ein eher schlanker 24-Jähriger aus einer Ringerfamilie. Gürbüz ist der Star. Er legt alle aufs Gras: Osman Aynur, Fatih Atli, Mehmet Yesil Yesil, alles Gewinner aus früheren Jahren. Gürbüz geht dann nach jedem Sieg nicht einfach in die Kabine. Es ist seine Brust, die sich durch die Menge der "Ali, Ali"-Rufer schiebt, aufgepumpt von der Anstrengung und stolzgeschwellt, 650 Jahre Geschichte tragen ihn davon. Die Türkei mag Ringer zu den Sommerspielen nach London schicken - Freistil und Griechisch-Römisch -, aber was wirklich zählt, ist Kirkpinar.

Der Ölmann kommt vor jeder Runde. Mit vollen Kupferkannen geht er die Reihe der Ringer ab, gießt jedem einen Liter Mischung aus Olivenöl und Wasser über Kopf, Brust und Arme. Eine Kanne Öl kommt hinten in die Hose über das Gesäß und in die vordere Abteilung. Dann wird ordentlich am Hosenrand gerüttelt, der besseren Verteilung wegen.

Die Hose - zwölf Kilo schwer - ist entscheidend. Gürtel, Fußbänder, mit denen sie am Bein festgehalten wird und eine dicke Naht im Inneren des Leders sind bevorzugte Angriffspunkte. Oft sieht man Ringer am Hintern vorbei tief in die Hose ihres Gegenübers greifen. Das mag befremdlich wirken. Aber bei 42 Grad in der Sonne und einem vor Öl triefenden, zu allem entschlossenen Gegner wird nicht lang herumgetan.

Ein Sport der Gentlemen

Im Finale taucht Recep Kara auf, Sieger von 2004, 2007 und 2008 in der Königsklasse der Baspehlivan, und legt sich mit Ali Gürbüz an. Kühlschrank gegen Schmächtling. Stirn an Stirn schieben sich die beiden Männer über das ölige Gras, den linken Arm auf der Schulter des anderen, die Finger der rechten Hand ineinandergekrallt. Man wartet auf den Fehler, die kleine Unsicherheit im Stand. Eine halbe Stunde geht das so, unterbrochen von Verwarnungen an Kara, der bei dem Versuch, mit den Händen irgendwie Halt zu finden, anfängt, Schläge auszuteilen. Öl-Ringen ist im Prinzip ein Sport der Gentlemen, jedem Kampf geht ein großes Begrüßungsritual voran. Laufen dem Gegner beim Kampf Öl und Schweiß ins Auge, wird gewartet. Bei Gürbüz vs. Kara aber sind die guten Manieren bald dahin.

Auch die ersten zehn Minuten Nachzeit bringen keine Entscheidung. Dann aber gelingt Gürbüz plötzlich ein Wurf und, als die Menge gerade aufjohlt, noch ein zweiter, mit dem er, halb kniend, Recep Kara über die Schulter auf den Boden schleudert. Gürbüz, bereits Turniersieger im Vorjahr, bekommt auf der Tribüne den Goldgürtel der Öl-Ringer. Einen Sieg im nächsten Jahr braucht er noch, dann kann Ali Gürbüz das goldene Stück mitnehmen und ins Wohnzimmer in Antalya hängen. (Markus Bernath, DER STANDARD, 16.7.2012)