"Wir hätten die Zeichen der Krise sehen sollen", räumt Mitterlehner (rechts) ein, hält die Welt nun aber für klüger. Wagenhofer fehlt der Glaube: "Es sind die Mächtigen, die für das System predigen."

Foto: Der Standard/Fischer

Wir beten den Götzen Wachstum an. Doch für jene unten fällt vom Kuchen nur ganz wenig ab.

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Ich schließe mich dem Vorschlag an, dass starke EU-Länder nun höhere Löhne in Kauf nehmen müssen.

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STANDARD : Herr Wagenhofer, in Ihrem Film "Let's make money" prallen Bilder von Slumbewohnern und Millionen scheffelnden Investoren aufeinander. Geht es uns im Westen so gut, weil anderswo Leute ausgebeutet werden?

Wagenhofer: Wie das Spiel tagtäglich läuft, zeigt sich gar nicht nur in den kontrastreichen Bildern der Dritten Welt. Nehmen Sie etwa Investmentbanker aus Fernostasien, wie sie auch in Wien arbeiten. Die stehen um vier Uhr früh auf, weil dann die Börsen in Tokio und China aufsperren. Bis zum Abend müssen sie einen riesigen Geldhaufen, der sich über Nacht aufgebaut hat, so investieren, damit er weiter wächst. Dazu sondieren sie den Markt: Zuckerverbrauch in den USA 30 Kilo pro Kopf, China nur elf Kilo, da lässt sich noch Geld verdienen. Also wird in Zucker investiert - gleichzeitig aber auch in Diabetesmedikamente und Krankenhäuser. Warum, kann man regelmäßig in den Medien lesen: steigende Zivilisationskrankheiten in den Schwellenländern.

Mitterlehner: Natürlich gibt es in der Weltwirtschaft Ungleichgewichte. Der entwickelte Teil verfügt über einen übermäßigen Anteil der Produktion - und damit über die entsprechenden Gewinne. Doch diese Schieflage wird sich rasch einebnen, weil die Dynamik in den "Emerging Markets" viel größer ist als bei uns. In jedem dieser Länder ist mir ins Auge gestochen, dass die Gesellschaft viel jünger und bildungshungriger ist. Vietnam etwa gilt zwar als kommunistisch geprägt ...

Wagenhofer: ... was prinzipiell nicht schlecht sein muss ...

Mitterlehner: ... doch von dort studieren Zehntausende in den USA, Australien, Großbritannien. 80 Prozent kommen wieder zurück, um sich in die Gesellschaft einzubringen. In China werden pro Jahr 60.000 Diplomingenieure fertig - das ist der gesamte Bestand Deutschlands. Auch die Inder treten sehr selbstbewusst auf. Die lassen sich nicht mehr von der großen EU beeindrucken, um einen asymmetrischen Freihandelsvertrag abzuschließen. Diese Länder haben nicht nur gute Chancen, die Ungleichheit aufzuholen - wir müssen froh sein, überhaupt nachzukommen.

Wagenhofer: Wir beten immer den Götzen Wachstum an. Aber selbst wenn der Kuchen wächst, fällt für jene unten nur ganz wenig ab. Wenn Sie etwa den Freihandel ansprechen: Der Fall der Zollschranken hat dazu geführt, dass es heute Weltmarktpreise gibt. Das Kilo Weizen kostet in Wien genauso viel wie in Indien, wo die Leute aber nur einen Bruchteil unseres Einkommens verdienen.

STANDARD : Ist der Spruch "Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut" also nur ein Schmäh?

Mitterlehner: Ich bin überzeugt, dass in einer globalisierten Wirtschaft alle auf höherem Niveau profitieren könnten. Dafür muss man die Verteilungsprozesse so gestalten, dass ökologische und soziale Aspekte nicht zu kurz kommen - der reale Markt allein bietet ja nur das an sich wertfreie System von Angebot und Nachfrage. Für einen weltweit wirksamen Ansatz halte ich Corporate Social Responsibility. Es gibt große Konzerne, die arbeiten längst mit NGOs wie Fairtrade oder Clean Clothes zusammen.

Wagenhofer: CSR wird in der Praxis doch oft missbraucht, wie auch unser Film thematisiert: Da gibt es diesen US-Konzern, der in Ghana nach Gold schürft. Die Rechte wurden mit einem Weltbankkredit gekauft, ...

Mitterlehner: ... und 97 Prozent der Gewinne fließen in die Schweiz.

Wagenhofer: Und wie sieht das CSR aus? Sie haben eine kleine Schule gebaut und verteilen Gratiskondome mit dem Firmen namen drauf.

Mitterlehner: Es gibt aber auch positive Gegenbeispiele. Wir brauchen uns nicht einbilden, von Europa aus die Arbeitsbedingungen in China diktieren zu können. Also müssen wir versuchen, die Macht der Konsumenten zur Steuerung einzusetzen.

STANDARD : Verläuft die Verteilung zumindest in Österreich gerecht?

Wagenhofer: Nein. Seit den 80er-Jahren gibt es keine realen Lohnzuwächse mehr - obwohl die Wirtschaft gebrummt hat. Ich hatte vor ziemlich genau 32 Jahren meinen ersten Arbeitstag mit einem Gehalt von 10.000 Schilling brutto. Meine Tochter hatte vor zwei Jahren ihren ersten Arbeitstag und mit 1500 Euro exakt das Doppelte bekommen. In dieser Zeit haben sich die Mieten aber verzehnfacht.

Mitterlehner: Insgesamt sind die Lebenshaltungskosten gemessen am Gehalt gesunken, und man muss auch sehen, dass die Arbeitszeit in den letzten 20 Jahren beträchtlich verkürzt wurde. Ich bezweifle das Bild, dass immer nur ein paar Reiche profitieren und die breite Masse nicht. Mir sind ein paar reiche Menschen bekannt, die sehr viel Geld verbrannt haben und heute ganz woanders sind. Kommt in Ihrem Film nicht eh der Mirko Kovats vor?

Wagenhofer: Kovats hat als Indus trieller einen riesigen Konkurs gebaut - doch sein Privatvermögen wird nicht angetastet. Letztlich werden die Verluste bei derartigen Pleiten sozialisiert. Fallen die Banken um ihr Geld um, springt der Staat zur Rettung ein. Das sind große Ungerechtigkeiten.

Mitterlehner: Zum konkreten Fall kann ich nichts sagen. Generell haften schon viele Unternehmer mit persönlichem Vermögen bei der Bank, weil sie sonst keine Kredite bekämen. Was für diese Leute aber oft schwerer wiegt: der Verlust des Prestiges.

STANDARD : Kovats ist ein typischer Fall: Ständig erklären Konzernbosse, wie der Staat zu sanieren wäre - und bauen dann selber Pleiten.

Mitterlehner: Viele erfolgreiche Konzernlenker glauben, dass ihre Spielregeln eins zu eins auf die Gesellschaft übertragbar sind. Das ist ein Irrtum, weil der Staat kein hierarchisches System ist, bei dem man durchgreifen kann. Ich kann auch nicht wie ein gewisser, an sich erfolgreicher Industrieller, der schon im Fußball nur mäßig reüssiert hat, ...

STANDARD : ... und nun eine Partei gründen will, ...

Mitterlehner: ... Mitstreitern eine Meinung vorschreiben. Meinungen müssen sich entwickeln.

STANDARD : Trotzdem wurde der Typus des Wirtschaftskapitäns lange in den Himmel gehoben.

Wagenhofer: Dabei hat sich die Krise des Systems angekündigt. Am meisten hat mich bei den Dreharbeiten zum Film erschüttert, dass unsere Gesprächspartner vor der Kamera den Crash vorausgesagt haben - vor allem jene aus der Finanzwirtschaft.

Mitterlehner: Ich gebe Ihnen recht, wir hätten 2008 die Zeichen der Krise sehen sollen. Die virtuelle Finanzwirtschaft hatte wesentlich mehr Geschwindigkeit entwickelt als die Realwirtschaft der Güter und Dienstleistungen. Es hätte schon gereicht, die Grundrechnungsarten anzuwenden: Wenn bei einem Wirtschaftswachstum von drei Prozent am Finanzmarkt Gewinne von 50 Prozent erwartet werden, dann stimmt etwas nicht. Da hat sich ein Wettfieber ohne Bezug zur Realität breitgemacht. All die Unternehmen sahen es als Sport an, eine Treasury-Abteilung zu gründen, um Geld am Finanzmarkt zu veranlagen - und nicht nur die: Auch Unis, Kirchen, Kommunen haben mitgemacht.

Wagenhofer: Weil die Regeln extrem zugunsten des Finanzmarkts ausgestaltet sind.

Mitterlehner: Zum Teil hat es gar keine gegeben.

Wagenhofer: 40 Prozent aller Gewinne werden am spekulativen Finanzmarkt gemacht. Doch das Problem ist, dass niemand mehr zwischen Wert und Gewinn unterscheidet. Ein Wert ist etwas wie dieses Wasserglas hier auf dem Tisch. Ein Gewinn an der Börse wird hingegen erwirtschaftet, indem ich durch Spekulation jemand anderem etwas wegnehme.

STANDARD : Hat sich seit Ausbruch der Krise denn etwas geändert?

Mitterlehner: Doch, bei den Spielregeln zum Beispiel.

Wagenhofer: Und zwar?

Mitterlehner: Es gibt strengere Eigenkapitalregeln, die Derivate werden anders geregelt, man diskutiert über die Finanztransaktionssteuer.

Wagenhofer: Das tut man doch schon seit über zehn Jahren ...

Mitterlehner: ... weil es natürlich um Macht geht. Niemand will etwas abgeben, das er kontrolliert.

Wagenhofer: Das ist eben das Problem. Es sind die wirklich Mächtigen, die für das System predigen. Wer ist denn auf dem Schoß der Frau Merkel gesessen? Der Deutsche-Bank-Chef Ackermann.

Mitterlehner: Also diesem Bild schließe ich mich nicht an.

Wagenhofer: In Wahrheit ist es wohl eh umgekehrt: Merkel saß auf Ackermanns Schoß. Es ist ja okay, dass Banken gerettet werden - aber man muss nicht auch noch ihre Aktionäre retten. Diese sind die großen Profiteure der Krise.

Mitterlehner: Mittlerweile wurden aber einige richtige Schlüsse gezogen, wenn auch zu langsam. Die europäische Bankenaufsicht etwa wäre schon vor drei Jahre fällig gewesen, die Banken hätten viel schneller umstrukturiert werden müssen. Wir waren einfach overbanked, wobei das Problem weniger "too big to fail", sondern "too political to fail" war.

STANDARD : Was muss noch passieren, um aus der Krise zu kommen?

Mitterlehner: Wir müssen mittelfristig die Budgets in Ordnung bringen und trotzdem Wachstumsimpulse setzen. Und es gilt, das Ungleichgewicht in der EU abzubauen, das ein tieferer Grund der Krise ist. Der Norden ist im Wettbewerb immer stärker, der Süden schwächer geworden, weil dort die Löhne stärker gestiegen sind. Ich schließe mich dem Vorschlag von Währungsfonds-Chefin Christine Lagarde an: Dass nun die starken Länder wie Deutschland tendenziell höhere Löhne zur Problemlösung in Kauf nehmen müssen, ist diskussionswürdig. Das gilt nicht für Österreich, wo die Lohnerhöhung zuletzt eh hoch war. Dass wir dabei Wettbewerbsfähigkeit verlieren, stimmt nicht. Denn wie man jetzt sieht, müssen wir sonst für die schwächeren Länder, die unsere Exportgewinne mit ermöglicht haben, mit Haftungen einspringen.

Wagenhofer: Wir brauchen, abgekoppelt vom Aktuellen, eine neue Vision. Die Krise zeigt, dass das industrielle Zeitalter zu Ende geht.

Mitterlehner: Einspruch! Insgesamt ist die Nachfrage durchaus am Steigen - ich denke an Afrika, den Mittleren Osten oder Russland. Dort braucht es Bildungseinrichtungen, Spitäler, Straßen. Man muss ja nicht den alten Fehler machen und alles rücksichtslos zupflastern. Aber punkto Ökoinnovationen etwa tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf.

Wagenhofer: Mit dem Denken von gestern werden wir die Probleme von heute und morgen nicht lösen. Bildung ist der Schlüssel, um zu neuen Ansätzen zu kommen - doch die nötige Kreativität wird an den Schulen zerstört. Wir erzeugen angepasste Pflichterfüller und unkritische Konsumenten. Unsere Haltung muss sich grundlegend ändern. Bei einem Kongress habe ich einmal angemerkt, dass Glück nicht nur vom Geld abhängen sollte. Daraufhin hat mich die Vizedirektorin der Wiener Wirtschaftsuniversität mit großen Augen gefragt: "Und was machen wir mit all den glücklichen Leuten?" (Gerald John, DER STANDARD, 14./15.7.2012)