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Zwei wackere Süderlügumer trachten danach, sich so viel wie möglich gratis in ihre Taschen zu stopfen. Die dazugehörigen Hosen, Röcke und Jacken haben sie allerdings zuvor ablegen müssen.

Foto: APA/dpa/Sebastian Iwersen

Karl-Markus Gauß kommentiert zwei Sommermeldungen.

Seit Tagen gibt sich der Sommer Mühe, die Temperaturen schon früh auf Rekordhöhen zu treiben. Seit Tagen sitze ich in meinem Arbeitszimmer unter dem Dach, in dem es im Winter kälter, im Sommer heißer ist als in den anderen Räumen der Wohnung, an schlechten Tagen langweiliger und an guten spannender als sonst wo auf der Welt. Ich blättere in den Notizen, die ich mir gewohnheitsmäßig mache, auch um mir in den Krisen der Einfallslosigkeit ein paar Ideen von mir selbst borgen zu können, und stoße auf das interessante Phänomen der Nacktheit, das aber historisch mit der Hitze wenig zu tun hat; hüllen sich doch jene Völker in lange, den ganzen Körper und selbst das Haupt bedeckende Kleider, über denen die Sonne länger und heißer zu brüten pflegt als über andere. Sich das Gewand bei den ersten Anzeichen von Erwärmung vom Körper zu reißen ist eher eine Angewohnheit von Menschen, de nen das Jahr über oft kalt war. Keiner röstet seinen entblößten Körper so ausgiebig an den Stränden des Südens wie die bleichen Menschen des Nordens, die sich der Hitze aussetzen, weil sie sich des Genusses wegen dazu verpflichtet fühlen.

Nicht um diese Nacktheit geht es mir jedoch. Vielmehr habe ich Nachricht von zwei merkwürdigen Formen der freiwilligen Entblößung erhalten, die nicht mit Sport, Sex, Schönheit, Sonne, sondern mit Konsum und mit Kunst zu tun haben.

Aus dem nordfriesischen Süderlügum, einem Ort an der dä nischen Grenze, wird vermeldet, dass ein Supermarkt eine Stunde, nachdem er eröffnet wurde, von der Polizei befristet wieder geschlossen werden musste. Der Leiter des neuen Marktes war auf die glänzende Idee gekommen, den ersten hundert Kunden, die den Supermarkt nackt betreten, freien Einkauf in der Höhe von 250 Euro zu versprechen. Es kam, wie es kommen musste, halb Süder lügum, ein beschauliches Städtchen, fand sich nackt vor dem Supermarkt ein, die Leute einzig angetan mit Körben, in denen sie die vermeintlich billigen, weil nur mit Entblößung des Leibes bezahlten Waren zu verstauen gedachten. Anfangs soll die Stimmung unter den bereits Stunden vor der Eröffnung eintreffenden Süder lügumern ausgelassen gewesen sein: Wer ist nicht guter Laune, wenn er zum ersten Mal die resolute Nachbarin in ihrer unverhüllten Schönheit erblickt oder den stets peinlich korrekten Finanzbeamten kennenlernt, wie ihn Gott oder immerhin dessen intelligentes Design erschaffen hat?

Bald aber kippte die Stimmung, denn immer mehr Nackte trafen ein und suchten sich durch die Menge näher zum noch versperrten Eingangstor zu drängen, sodass sich Leib an Leib rieb, was die Süderlügumer aber weniger er regte als aufregte. Die paar Einwohner, die sich bekleidet von der Qualität des neuen Supermarktes überzeugen wollten, hatten längst das Weite gesucht, als Angezogener fühlt man sich unter Nackten rasch unwohl. Als der Geschäftsführer die Eingangstür endlich aufsperrte, wurde er von der Herde überrannt, in der Fleischabteilung soll es zwischen Rohschinken, Bratwürsten und Masthühnern zu den ersten Schlägereien gekommen sein, bei den Kosmetika gingen die Kunden, die in ihrer nackten Unschuld ja nicht zurück zur Natur, sondern hin zu den Regalen wollten, bereits dazu über, sich mit Stößen aus Spraydosen gegenseitig außer Gefecht zu setzen. Die Polizei wurde gerufen, sie rückte, unfairerweise uniformiert und nicht naturistisch, in Mannschaftsstärke an und räumte den Supermarkt, in dem Verletzte und Versehrte um die letzten Waren rauften.

Das geschah nicht in einem subsaharischen Hungerland, sondern in Deutschland, und die Polizei geht davon aus, dass es sich nicht um eine Revolte von Sozialhilfeempfängern gehandelt hat, die sich einmal mit Dingen eindecken wollten, welche sie sich anders schon lange nicht mehr leisten können; die den Supermarkt stürmten, waren vielmehr ganz normale, biedersinnige Leute, die nur halt darauf dressiert sind, nicht prüde oder gschamig zu sein und etwa den Schwanz einzuziehen, wenn sie ein Schnäppchen erjagen können.

Zur selben Zeit, ein paar Hundert Kilometer weiter im Süden, fanden sich 1700 Münchener ein, um für den amerikanischen Fotografen Spencer Tunick vor der Bayerischen Staatsoper die Kleidung abzulegen. In der Staatsoper wird gerade Wagners Ring der Nibelungen gegeben, und Tunick versteht seine Aktion als begleitende Interpretation der Oper. Inwiefern, darüber ist er sich selbst noch nicht ganz klar; überhaupt, sagt er, werde in seine Aktionen, mit denen er die Nackten aller Kontinente zu vereinen weiß, zu viel hineininterpretiert. Als sich vor vier Jahren zwei Tausend im Wiener Fußballstadion auszogen und auf Tunicks Geheiß hin probeweise von da nach dort verfügten, haben Kunstkritiker geraunt, er wolle mit so vielen seinem Befehl unterstellten Körpern vermutlich auf die Deportation der Juden von Wien anspielen. Im Gegenteil, antwortete er nun in einem verspäteten Interview in der Süd deutschen Zeitung, es habe ihn vielmehr gereizt, fotografisch den freudvollen Anblick nackter Menschen im öffentlichen Raum festzuhalten. Im selben Interview weist er es auch von sich, dass er vor der Erderwärmung habe warnen wollen, als er 700 Nackerte auf den Schweizer Aletschgletscher bat, oder vor der Gefahr, dass das Rote Meer austrocknen könnte, als 1200 seinem Aufruf folgten, sich dort in streng von ihm komponierten Gruppen aufzustellen. Nein, er fotografiere Nackte einfach gern, weil er sie für schön halte, "zumindest aus einer gewissen Entfernung".

Da fragt man sich natürlich, was das denn heißen solle - Schönheit aus der Entfernung, Schönheit mittels Entfernung? Wer den Menschen nur schön findet, wenn er ihm nicht zu nahe kommt, findet ihn vermutlich gar nicht schön, zumindest nicht in seiner Körperlichkeit, zu der ja auch das gehört, was aus der Nähe betrachtet als unvollkommen erscheinen mag. Was Tunick schön findet, ist also nicht der Einzelne in seiner Nacktheit, sondern die Masse Mensch, das Fleisch, das seine Helfer mal mit roter, dann weißer oder schwarzer Farbe übergießen und nach seinen Anweisungen in immer neuer Ordnung auf dem Ladentisch seiner Kunstperformance auflegen. Tunick geht es um die anonyme, in die Distanz verwiesene, aus der Distanz beherrschte Masse Mensch.

Das ist zwar vielleicht ein bisschen befremdlich, aber auch wenn ich dem Mann so wenig wie den Einkäufern von Süderlügum nachzueifern begehre - was er will und was sie wollen, kann ich immerhin nachvollziehen. Er will, was schon vor Leni Riefenstahl und erst recht nach ihr manche Fotografen eben wollten: die disziplinierten Massen fotografieren und ihnen dabei die eigene ästhetische Marschordnung aufzwingen. Die wackeren Süderlügumer wieder um trachteten danach, sich gratis so viel wie möglich in ihre Taschen zu stopfen, deren dazugehörige Hosen, Röcke und Jacken sie allerdings vorher hatten ablegen müssen. Der eine will Massen fotografieren, die froh sind, ihm Modell stehen zu dürfen, ohne dafür bezahlt zu werden, die anderen wollen massig viel einkaufen, ohne dafür bezahlen zu müssen.

Nur eines bleibt mir unerfindlich, bei all den Nackten dieses Sommers: Was, verdammt, geht in den Kunstfreunden vor, die sich für Tunick entkleiden und versammeln, die sich mit Farbe bemalen und von hier nach dort beordern lassen, um dann auf seinen Riesenfotos das anonyme Füll material abzugeben? Ich vermute, hier wirkt ein unbedingter Wille zur Kunst, das Ideal, als Einzelner an etwas Großem gerade dadurch teilzuhaben, dass man seine Individualität in eine folgsame Masse entäußert. Nackt, heiß und voller Ideale, gewissermaßen. (Karl-Markus Gauß, Album, DER STANDARD, 14./15.7.2012)