Seit 137 Jahren schwingt sie bereits ihre Röcke, klappert mit den Kastagnetten und macht die Männer auf der Bühne und im Publikum kirre: Carmen, der Welt bekannteste Zigarettendreherin aus Sevilla. In Lyon trug sie jüngst rote Reizwäsche zur Schau, in St. Margarethen wird sie wahrscheinlich von ganzen Pferdeherden umschwärmt, in Salzburg von Jonas Kaufmann angeschmachtet und abgestochen. Warum nur wollen alle Carmen sehen?

Das liegt zum einen natürlich an der Musik. Deren Leichtigkeit, Biegsamkeit und "afrikanische Heiterkeit" hatte ja schon Friedrich Nietzsche begeistert, wie er auch die knallharte Darstellung von Liebe "als Fatum, als Fatalität" schätzte. Theodor W. Adorno hingegen, die gestrenge Meckerziege der Musikwissenschaft, sah bei Carmen nur den "Sexus selber vorweltlich und vorgeistig" sein wildgelocktes Haupt erheben.

Schon in ihrer ersten Arie schildert Bizet die Titelfigur doppelgesichtig: Schlängelt sich die Melodie der Habanera im herben Moll-Teil mit reptilienhafter Bodenhaftung in kleinen Sekundschritten abwärts, den unteren Regionen ihres Stimmumfangs entgegen, so lässt er im darauffolgenden Dur-Teil Carmen in leichten, luftigen Terz- und Oktavintervallen singen, schwärmen, fliegen. Denn nicht nur das Glück ist, wie der Wiener weiß, ein Vogerl, sondern auch die Liebe. Und: Ein Kind der Bohème sei die Liebe, ein Kind, welches nie ein Gesetz gekannt habe.

Die in einem Abbruchhaus in Salzburg-Lehen lebenden Roma, die vor kurzem von einer Gruppe türkischer Jugendlicher mit Eisenstangen verprügelt wurden, kannten wohl nur die (zum Beispiel das Betteln) verbietende Seite des Gesetzes und nicht die schützende: Sie sind nach dem Angriff Medienberichten zufolge aus der Mozartstadt verschwunden. Der in Salzburg lebende Schriftsteller Karl-Markus Gauß, der das Bettelverbot seit langem kritisiert, wies jüngst auf die Absurdität hin, dass die Roma in Salzburg auf der Straße als Bettler vertrieben würden, auf der Bühne des Großen Festspielhauses würden Zigeuner aber bewundert und beklatscht - bei Bizets Carmen.

Betrachtet wird dort aber nur die Frau, die ihre Sexualität nach ihrem eigenen Willen auslebt, und nicht die Zigeunerin, die von der Gesellschaft lediglich die zwei Existenzmöglichkeiten Tabakarbeiterin und Soldatenhure eingeräumt bekommt. Doppelgesichtige Carmen, seheingeschränkte Welt. (Stefan Ender, DER STANDARD, 12.7.2012)