derStandard.at: In Ihrem über 50-seitigen Bericht listen Sie detailliert die Zerstörungen an Syriens historischem Erbe auf. Wie schwierig war und ist es an Information zu kommen?

Cunliffe: An Informationen zu kommen selbst war nicht schwierig, jedoch zeitaufwendig. Das Ziel meines Berichts war es die vielen Informationen, die zur Verfügung standen, zu sammeln. Erwähnenswert ist vor allem die Facebook-Gruppe "Le patrimoine archéologique syrien en danger", die zahlreiche Berichte aus arabischen Medien und Quellen vor Ort analysiert und veröffentlicht. Seit der Publikation meines Berichtes kommen auch viele Menschen mit Informationen über Zerstörungen auf mich zu. Informationen direkt aus Syrien zu bekommen stellt sich jedoch nach wie vor als schwierig heraus. Im gegenwärtigen politischen Klima wollen viele Menschen das Regime nicht öffentlich kritisieren. Auch die Archäologie-Behörde in Syrien ist in einer Zwickmühle – schließlich sind sie ja Angestellte des Staates und müssen aufpassen, was sie sagen.

derStandard.at: Warum ist Syrien – von einem historischen und archäologischen Gesichtspunkt gesehen – so bedeutend?

Cunliffe: Syrien war Heimat von einigen der ältesten Zivilisationen der Welt. Und zwar nicht nur von denen man oft liest: den Römern oder Babyloniern. Es gibt Stätten, die auf die Ursprünge der Menschheit zurückgehen und hunderttausende Jahre alt sind. Spuren der ersten Hochkulturen gehen 5000 Jahre zurück. Syrien war Jahrtausende lang in der Mitte verschiedener Imperien, durch seine geographische Lage ist es so etwas wie ein Schmelztiegel der Zivilisationen geworden. Assyrer, Römer, Perser, Babylonier – alle haben in Syrien ihre Spuren hinterlassen: Städte, Malereien und Inschriften. Und weil es auch eine extrem trockene Region ist, sind viele bis heute gut erhalten.

derStandard.at: Ihr Bericht dokumentiert die Schäden an zahlreichen kulturellen und archäologischen Anlagen – darunter sogar Weltkulturerbstätten. Wodurch werden die Zerstörungen und Beschädigungen verursacht?

Cunliffe: Die Ursachen sind vielfältig: Am Offensichtlichsten sind Schäden, die durch Granatbeschuss und Bombardierungen entstehen. Speziell die vielen Zitadellen und Burgen in Syrien, die oft von Oppositionskämpfern besetzt sind, leiden darunter. Beschuss durch Pistolen und Maschinengewehren zerstören Gebäude und Ausgrabungskampagne zwar nicht, aber können trotzdem gewaltigen Schaden anrichten. Ein ganz besonderes Problem stellt die Besetzung von historisch bedeutenden Stätten durch Einheiten der Armee dar. Einerseits kennen die Soldaten oftmals nicht die kulturelle Bedeutung des Ortes, an dem sie sich gerade befinden und nehmen zum Beispiel häufig Souvenire mit oder beschießen Ausgrabungen. In einigen Fällen graben sogar Bulldozer Schützengräben inmitten von archäologischen Anlagen. Das Aufstellen von militärischen Gerätschaften wie zum Beispiel Granatwerfer hat auch verheerende Auswirkungen. Die ständigen Vibrationen beim Abschuss können alte Gemäuer stark in Mitleidenschaft ziehen. Außerdem wird eine archäologische oder kulturelle Stätte zum Ziel, sobald sich dort wichtiges militärisches Gerät befindet.

Oft unerwähnt bleibt die illegale Bauaktivitäten auf historisch bedeutenden Anlagen. In Syrien gab es solche Problem zwar schon vor Ausbruch der Revolution. Doch in Regionen, wo Sicherheit und Ordnung zusammengebrochen sind, verstärken sich derartige Tendenzen. Steine aus archäologischen Anlagen werden entweder als Baumaterial gestohlen oder es wird gleich direkt auf geschützten Gelände gebaut, weil schlichtweg niemand da ist, um sie zu stoppen. Und wenn die Häuser einmal fertig gebaut sind und Menschen darin leben, ist es sehr schwer, sie wieder raus zu bekommen.

Autobomben- oder Selbstmordanschläge, sowie Plünderungen stellen ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar.

derStandard.at: Ist an der Zerstörung eine Seite mehr Schuld als die andere?

Cunliffe: Von dem was ich beobachten konnte, sind beide Seiten sehr darauf Bedacht jeweils die andere Seite zu beschuldigen. Unabhängige Berichte lassen aber darauf schließen, dass beide Seite Verantwortung für die Zerstörung tragen.

derStandard.at: Das heißt die Zerstörung der historischen Stätten spiegelt auch einen politischen Konflikt wieder?

Cunliffe: Ja, das Thema ist enorm politisiert worden und in jüngster Zeit ist zu beobachten, dass der Konflikt auch verstärkt auf religiöser Eben ausgetragen wird. Einem Bericht aus Homs zufolge, haben Kräfte der Freien Syrischen Armee (FSA) bewusst die christlichen Teile der Stadt besetzt, weil die christliche Minderheit als Pro-Assad wahrgenommen wird – Beschädigungen und Zerstörungen von bedeutenden Gebäuden werden dabei in Kauf genommen.

derStandard.at: Zahlreiche Museen wurden seit Ausbruch der Revolution Opfer von Plünderungen. Wie muss man sich die Situation vor Ort vorstellen? Wie leicht ist es in Syrien in Museen einzubrechen?

Cunliffe: Ich glaube nicht, dass es generell schwieriger oder leichter ist als in vielen anderen Museen dieser Welt. Auch in Syrien sind Museumsmitarbeiter in der Regel nicht bewaffnet und Berichten zufolge kamen in einigen Fällen gut organisierte Gangs in die Museen, richteten die Waffen auf die Angestellten des Museums und raubten sie aus.
Man sollte jedoch Bedenken, dass es auch in europäischen Museen vermehrt Berichte von Diebstählen gibt – z.B. das Museum in Olympia wurde Anfang diese Jahres von einer wirklich gut organisierten Bande ausgeraubt.
Die aktuelle Sicherheitslage macht es sicherlich leichter, dass solche Plünderungen stattfinden können, aber Museumsdiebstähle sind weltweit ein wachsendes Problem. Sicher wissen wir, dass bisher vier Museen und acht oder neun Stätten ausgeraubt und zahllose weitere als gefährdet klassifiziert wurden.

derStandard.at: Sind all diese Plünderungen von Gangs organisiert oder gibt es auch unorganisierte Formen von Plünderungen?

Cunliffe: Von dem was wir an Erfahrungen aus dem Irak und Ägypten wissen, ist es in der Regel beides. Einerseits gibt es sicherlich Auftragsdiebstähle, andererseits haben in der Geschichte oftmals einfach Anrainer immer wieder Artefakte gestohlen, von denen sie geglaubt haben, sie können sie irgendwie zu Geld machen. Wichtig ist es aber zu verstehen, dass das nicht immer aus reiner Geldgier gemacht wird. Nach dem ersten Golfkrieg und den UN-Sanktionen haben viele Iraker Artefakte gestohlen und verkauft, weil sie fast verhungert wären und das war ihre einzige Möglichkeit an Geld und damit an Nahrungsmittel zu kommen.

derStandard.at: Museen auszurauben ist eine Sache, aber wie leicht können solche Artefakte in Folge verkauft werden?

Cunliffe: Der Prozess ein solches Artefakt zu verkaufen ist schon sehr komplex. Um ein Artefakt zu verkaufen muss man in den meisten Fällen seine Herkunft belegen. Und dieser Vorgang ist von Land zu Land und Museum zu Museum verschieden.
Wenn man verhindern kann, dass ein gestohlenes Artefakt das Land aus dem es stammt verlässt, hat man schon sehr viel erreicht. Ab dem Zeitpunkt, wo es das Ursprungsland verlassen hat, wird es deutlich schwieriger. Vor allem wenn es von noch nicht erschlossenen archäologischen Stätten gestohlen wurde. Wenn man noch nicht dokumentierte Artefakte am Markt anbietet, wird es schwer zu beweisen, dass sie Diebesgut sind. Viele dieser gestohlenen Artefakte, vor allem Statuetten in den Museen, sind nur wenige Zentimeter groß und deshalb leicht zu schmuggeln. Trotzdem können einzelne Stücke um einige tausend Dollar pro Stück verkauft werden. Letztes Jahr wurde eine solche Statuette sogar um 250.000 Dollar verkauft. Das heißt wir sprechen hier von einem sehr großen Markt. Einige größere Museen verlangen eine Dokumentation des Ursprungs der Artefakte von ca. 10 Jahren. Das heißt wir kommen jetzt in eine Zeit, wo Diebesgut aus dem zweiten Golfkrieg auf den Markt kommt und verkauft werden kann. Andere Museen verfolgen die Politik nur bei Zweifel an der Herkunft Fragen zu stellen, frei nach dem Motto "Don't ask, don't tell". Andere Museen und Institutionen wiederum stellen sehr genaue Fragen. Das zeigt wie kompliziert die Situation ist. Man realisiert erst langsam, was für ein großes Problem dieser Schwarzmarkt für gestohlene Artefakte weltweit darstellt. Vermutet wird, dass er finanziell mittlerweile nur mehr von der Kidnapping- und Schutzgeld-Industrie übertroffen wird.

derStandard.at: Berichte von blutigen Ausschreitungen, Folterungen und Massaker: Interessiert in so einer Lage die Syrer ihr historisches Erbe überhaupt noch?

Cunliffe: Ja, denn ich glaube die Syrer sind sehr mit ihren historischen Erbe verbunden. Viele der Informationen, die auf Seiten wie "Le patrimoine archéologique syrien en danger", veröffentlicht wurden, stammen vor allem von besorgten Bürgern in Syrien. Wichtig zu verstehen ist aber, dass es dabei nicht nur um große Burgen oder imposante römische Ruinen geht. Bosra zum Beispiel ist nicht nur ein Weltkulturerbe, sondern auf dem Gelände wohnen auch Menschen. Das heißt, es geht dabei
nicht nur um die Zerstörung einer archäologischen Stätte, sondern auch um die Zerstörung von Lebensraum von Menschen und ihrer Lebensart. Viele der Kirchen und Moscheen in Syrien gehen zurück auf die Frühzeiten ihrer jeweiligen Religionen. Dabei geht es nicht
mehr nur um Gemäuer, die zerstört werden, sondern um Jahrhunderte alte Traditionen, die in Mitleidenschaft gezogen werden. (Stefan Binder, derStandard.at, 13.7.2012)