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Der perfekte Plan, ein Mädchen aufzureißen, beruht auf der Annahme, dass Angst zu zwischenmenschlicher Annäherung führt.

Foto: dpa/arno Burgi

Meine Oma meint es nur gut: "Du darfst einen Kaugummi niemals schlucken! Er verklebt dir die Därme, und dann musst du sterben!" Ich bin erst fünf Jahre alt und glaube alles, was Großmutter sagt. Deswegen kaue ich jeden Gummi mit besonderer Vorsicht. Doch eines Morgens geschieht das Ungeheure ...

Kaugummi und Fischdarm

Beton, Asphalt und Autos sind damals auf Brac Mangelware. Von unserem Haus bis zum Bäcker von Sutivan muss man auf einer staubigen und steinigen Straße gut zwei Kilometer weit gehen. Von Oma bekomme ich fünf Dinar fürs Brot und für eine Packung jener Kaugummis, die wie Zigaretten aussehen. Das ist dann meine potenziell tödliche Belohnung fürs Brotholen. Auf dem Weg zurück zum Haus, wo man schon auf das Brot wartet, bin ich bei der vorletzten Kurve angelangt, gleich vor dem Haus von Mate, der heute mein guter Freund ist. Mates Mutter kauert auf einem Felsen am Meer und säubert die Fische, die ihr Mann frühmorgens gefangen hat. Ich stolpere über einen Stein und verschlucke den Kaugummi.

Wenn Kinder in absolutem Horror sind, strecken sie die Arme vom Körper und spreizen die Fingerchen, eine Flut an Tränen schießt aus den Augen, gefolgt vom Schluchtz-Weinkrampf. Mates Mutter sieht und hört das, lässt ihre Fische in den Zuber fallen und läuft zu mir. Aus meinem Panik-Gestammel meint sie zu verstehen, mir würde etwas im Hals stecken. Also schiebt sie ihre Finger samt daran klebendem Fischgedärm in meinen Hals, um den vermuteten Fremdkörper zu entfernen.

Ich kann mich bis heute erinnern, wie Kaugummi mit Fischdarm schmeckt. Dazu kommt anschließend noch der Geschmack von Kotze. Als dann mein Frühstückskakao, die Fischdärme und der verschluckte Kaugummi im Staub vor meinen Füßen liegen und ich noch lebe, kann ich Mates Mutter endlich sagen, was Sache ist. Sie lacht noch lange nachdem ich um diese vorletzte Kurve biege, meine Tränen abwische, das Gesicht im Meer wasche und in kindlicher Wut über Omas Kaugummi-Lüge das Brot samt Kaugummis in die Adria schleudere. Eine Tat, die schmerzhafte Folgen für meinen kleinen Hintern hat.

Heute ist Mates Mutter eine alte Frau. Doch auch sie erinnert sich an diese Szene und wir lachen jedes Jahr zusammen, wenn ich in Sutivan ankomme und mit Mate den Willkommens-Nusslikör trinke. Meine Oma ist voriges Jahr im Alter von satten 92 Jahren eingeschlafen. Ich habe meine Zweifel, ob ich ihr das glauben soll.

Anarchie ist eine Ziege

Sie gehört niemandem, ist frei und macht nur, was sie will: die Ziege Lucija. Sie schließt sich manchmal einer Herde an, und wen sie mag, der darf sie auch melken. Über lang gibt man es in Sutivan auf, Lucija in eine Herde eingliedern zu wollen, denn sie findet immer einen Weg auszubüxen. Bisweilen kommt Lucija auch zu unserem Haus, lässt sich mit Brot füttern und dankt mit frischer Milch, die ich zu trinken bekomme, weil ich so ein schwächliches Kind bin. Anschließend verschwindet Lucija in der Macchia zu ihrem Schlafort, den nur sie kennt. Eines Tages aber kommt Lucija nicht mehr.

Jahre später bin ich 16, voller Hormone und unzerstörbar. Ich bin ständig auf der Jagd nach Touristinnen, um endlich, wie man hier so sagt, feuchten Schwanzes aus der Nacht zu kommen. Als endlich Ivona, die Polin, meinen Jagdgrund quert und willig ist, mit mir Körperflüssigkeiten bis zum Endglück auszutauschen, ist das einzige ungelöste Problem der Ort, wo die beidseitige Entjungferung stattfinden soll. Dieses nicht unwichtige Detail vorrausschauend zu lösen fällt mir in meiner Geilheit einfach nicht ein. Und die Uhr tickt laut, denn Ivonas Eltern wollen sie vor Einbruch der Dunkelheit im Apartment wissen.

Also schleife ich dieses endgeile Stück Touristinnenfleisch von Strand zu Strand, wo leider immer noch irgendwer auf der Matte liegt. Verzweifelt wechsle ich die Richtung. Neuer Kurs: Süd-West, den Berg hinauf, zur Kapelle des heiligen Vincenz von Ferrara. Auf halbem Wege, nach den letzten Häusern, ist ein Pinienwald, weich und jung wie die Seele eines Neugeborenen. Hier finde ich unerwartet eine verzauberte Lichtung um eine eingefallene Buna, eine Behausung aus Steinen, die seit Urzeiten den Hirten von Brac als Unterschlupf dient.

Als ich auf dieser Lichtung, verschwitzt von getaner Untat, unter dem dunkler werdenden Himmel liege, als Ivona längst zu ihren Eltern enteilt ist, als die Sonne ein letztes Mal durch die Pinien strahlt, fällt ein Sonnenfinger auf die halb verfallene Buna, wo ich meine, etwas glitzern zu sehen. Im Inneren ist etwas Weißes, wie ein alter, weggeworfener Teppich. Ich erkenne Lucija an ihrem eingerissenen linken Vorderhuf. Hier ist seit all den Jahren ihr von niemandem entdecktes Nachtlager und ihr Grab. Heute ist dieser Pinienwald längst abgeholzt, Lucijas Buna abgetragen und die Steine daraus in ein hässlichen Apartmenthaus eingebaut. Ihr eingerissener Huf ruht unter einer großen Pinie vor unserem Haus in Sutivan.

Der Aufriss des Jahrhunderts

Nun bin ich schon fast 18 und habe den perfekten Plan. Er stammt aus dem Topf der Waschküchenpsychologie für junge Aufreißer und beruht auf der Annahme, dass Angst zu zwischenmenschlicher Annäherung führt.

Der Friedhof von Sutivan ist nachts ein unheimlicher Ort, was wohl auf jeden Friedhof des Planeten zutrifft. Aber ich bin jetzt in Sutivan, diese blonde Deutsche, die sich seit Tagen ziert, ist nur noch kurze Zeit hier und ich will den letzten Versuch wagen. So wird der Friedhof bei der Kapelle des heiligen Rochus, der einst Sutivan von der Pest befreit hat, zum Ort der geplanten Untat. Die Piefkonin soll zitternd an mich geklammert erst meinen Körper spüren, um anschließend seinen Trost zu empfangen. Wie romantisch der Friedhof bei Vollmond ist, lässt sie sich auch willig einreden und kommt tatsächlich mit. Nun sitzen wir zwischen den Grabsteinen, sie findet bald die Figuren und Inschriften so romantisch, dass sie mich alleine lässt und im Mondschein über die Steindeckel tanzt, hinter die Zypressen lugt und ein Liedchen aus ihrer Heimat trällert.

Ich hingegen warte auf alle Zombies und Vampire aus allen Geschichten und Filmen, die ich kenne. Nach 20 Minuten bettle ich sie an, zum Strand zu gehen, wo es noch viel romantischer ist. Doch sie lacht nur und tanzt und trällert so falsch, daß ich meine, es würde alle toten Stivanjani auf einmal aufwecken. Und so wird es diesmal wahr: "Trockenen Schwanzes kehrten die Ficker aus der Nacht." (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 13.7.2012)