Auf den Glocknerwiesen entlang der Großglockner-Hochalpenstraße wachsen mehr als 200 Blütenpflanzenarten, die Schmetterlinge wie das Widderchen (Mitte) anlocken. Die dort herrschende Artenvielfalt stammt auch von Menschenhand, da die Flächen seit Jahrhunderten gemäht werden.

Fotos: Nationalpark Hohe Tauern, Erwin Haslacher, Katharina Aichhorn

Das Rauschen des wilden Wassers aus der Dabaklamm drunten im Kalser Dorfertal ist kaum noch zu vernehmen. Ein kühler Wind weht über die nächtliche hochalpine Wiese, während der Vollmond das beeindruckende Osttiroler Bergpanorama schwach erhellt. Nichts scheint diese Naturidylle im Nationalpark Hohe Tauern zu stören, wären da nicht ein sich sanft im Wind wiegendes weißes Leintuch, das von einer Glühbirne angestrahlt wird, und das Knattern eines kleinen Stromgenerators, der diese Glühbirne zum Leuchten bringt.

Angelockt vom hellen Schein des Kunstlichts, tummeln sich auf dem Stoff in kürzester Zeit hunderte Insekten. "Spinner, Spanner, Schwärmer - alles, was nachts so unterwegs ist, kann man auch hier finden", sagt Gerhard M. Tarmann mit einem Augenzwinkern. Er leitet seit 1974 die naturwissenschaftlichen Sammlungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum, und beschäftigt sich auch mit der Inventur der im Nationalparkgebiet vorkommenden Schmetterlingsarten.

Sie sind Indikatoren der Artenvielfalt, eines der zentralen Forschungsthemen im Nationalpark, und des Zustandes einer Region, wie Tarmann sagt: "Schmetterlinge zeigen Umweltveränderungen an, weil sie und ihre Raupen bestimmte aufeinander abgestimmte Lebensbedingungen brauchen." Auf manchen Wiesen im Tal, schildert er, könne man höchstens zehn Schmetterlingsarten zählen. "Das ist tote Kultursteppe, obwohl sie immer noch grün ist."

Ganz anders stelle sich die Lage vor Ort dar: "Die Wiese, auf der wir uns befinden, ist einer der artenreichsten Flecken im gesamten Nationalpark", sagt Tarmann: Blumenwiesen, Felswände, die sich aufheizen, Büsche etc.: All das sei die Voraussetzung für eine hohe Biodiversität. Der Zoologe zeigt zwischendurch auf einen der Falter, die sich auf der Leinwand niedergelassen haben: "Das ist ein sogenannter Flechtenbär. Seine Raupen fressen Flechten."

Empfindliche Bioindikatoren

Einige Arten seien in den Ostalpen verschwunden, fährt er dann fort, was die Forscher vor ein Rätsel stellte. "Mittlerweile wissen wir, dass dies eine Folge von Tschernobyl war", sagt Tarmann. Cäsium hatte sich im Boden abgelagert und radioaktive Alphastrahlen an die im Boden lebenden Raupen abgegeben. Degenerationserscheinungen waren die Folge. "Man sieht, welche Folgen so etwas für eine empfindliche Spezies haben kann. Dummerweise hat es hier im Dorfertal unmittelbar nach der Reaktorexplosion heftig geregnet", sagt Tarmann.

Die meisten Schmetterlingsarten sind nachtaktiv: Von den welt-weit momentan bekannten rund 180.000 Arten, wovon 4000 in Österreich leben - 1200 kommen im Nationalpark vor - sind circa 85 Prozent ausschließlich in der Dunkelheit unterwegs. Nur etwa 200 Arten gehören zu den bekannten Tagfaltern wie beispielsweise der geschützte Alpenapollo, der naturnahe Fließgewässer bevorzugt und daher den Nationalpark sehr schätzt.

Nachtschicht einlegen

Oft müssen Schmetterlingskundler also eine Nachtschicht einlegen und ihr Equipment in abgelegene, extreme Gegenden des Schutzgebiets schleppen. Neben der klassischen Methode mit Glühbirne und Leintuch kommen aber auch Blaulichttürme oder - noch besser, dafür teurer - Lichtfallen mit UV-Licht zum Einsatz. Letztere stellt man in der Dämmerung auf und holt sie am nächsten Tag vor Sonnenaufgang wieder ab. Die Insekten sind dann meist auch starr vor Kälte und können leicht gezählt werden. Danach werden sie wieder freigelassen.

Die Bemühungen der Forscher haben dazu beigetragen, dass das Gebiet zu den am besten untersuchten Regionen Europas zählt, was die Schmetterlingsfauna betrifft. "In Gesamttirol gibt es 2800 bis 2900 Schmetterlingsarten. Auf einer Wiese kann man durchaus über 670 verschiedene Arten finden", sagt Tarmann.

Sechs neue Arten habe man entdeckt, davon eine, die nach heutigem Kenntnisstand nur hier zu finden ist, den Tauernwickler. Er und der Sarjatfalter haben keine direkten Verwandten in Europa. Diese leben in Zentralasien. "Sie müssen also in einer Kaltsteppenperiode hierhergekommen sein und einen idealen Lebensraum über 1500 Metern vorgefunden haben", sagt Tarmann. Genetische Untersuchungen, aber auch historische Sammlungen würden Aufschluss über Verwandtschafts- und frühere Umweltverhältnisse bringen.

Robert Lindner, Biologe und Leiter des Biodiversitätszentrums im Haus der Natur Salzburg, streicht die "Arche-Noah-Funktion" des Nationalparks Hohe Tauern hervor: "Er ist Rückzugsgebiet für gefährdete Arten, deren Lebensräume verlorengegangen sind."

Vielfalt durch Menschen

Auf den 1856 Quadratkilometern des Nationalparks kann sich auf 75 Prozent der Fläche die Natur frei entfalten. So zieht der beinahe ausgerottete Steinadler wieder seine Bahnen ebenso wie der wiederangesiedelte Bartgeier. Aber auch der Steinbock, der Hochmoorgelbling, eine Schmetterlingsart, die Hochmoore bevorzugt, oder das Birkhuhn sind in diesem alpinen Gebiet noch oder wieder anzutreffen.

Zu verdanken sei die hohe Biodiversität des Nationalparks der extremen Höhendifferenz auf engstem Raum, sagt Lindner. Unterschiedliche Lebens- und Klimabedingungen sind die Folge. Vom "ewigen" Eis der Gletscher bis hin zu den sonnenbeschienenen Glocknerwiesen entlang der Großglockner-Hochalpenstraße.

Diese sind ein gutes Beispiel dafür, wie auch durch den Eingriff des Menschen Artenvielfalt entstehen kann: Regelmäßige Bergmahd, um Heu für den Winter zu gewinnen, verhinderte das Zuwachsen der Wiesen, wodurch sich zahlreiche Arten ansiedeln konnten: Bis zu 57 verschiedene Pflanzenarten können hier auf einer Fläche von nur 25 Quadratmetern gedeihen. Auf etwas mehr als einem Quadratkilometer wachsen 208 Blütenpflanzenarten. Die Schmetterlinge - aber nicht nur die - freut's. (Markus Böhm, DER STANDARD, 11.7.2012)