David Brin: "Existence"
Gebundene Ausgabe, Tor Books 2012 / Limitierte Paperback-Ausgabe, Orbit Books, jeweils 550 Seiten, 2012
Wenn ein SF-Superstar wie David Brin seinen ersten Roman seit zehn Jahren veröffentlicht, dann ist das per se schon ein Ereignis mit Donnerhall. Erst recht, wenn es sich wieder um einen Monumentalwälzer mit Ein-Wort-Titel handelt, der bescheidenen Welterklärungsanspruch suggeriert. Wir erinnern uns an "Earth" aus dem Jahre 1990. "Existence" ist darauf angelegt, "Earth" noch einmal zu toppen und sich zum größten 360-Grad-Panorama der Menschheit seit John Brunners "Stand on Zanzibar" aufzuschwingen. Was noch nicht heißen soll, dass das auch geglückt ist. Wenn am Anfang des Romans ein Astronaut darauf hinunterblickt, was sich down in that film of sea and clouds and shore tut, dann steht dies jedenfalls stellvertretend für die Vogelperspektive, aus der Brin den gesamten Roman angegangen ist. Das Ergebnis ist eine Truckladung voller brillanter Gedankengänge und dramaturgischer Defizite. Und natürlich Pflichtlektüre für jeden, der an Science Fiction und/oder Wissenschaft interessiert ist.
Gehen wir's mal vom Setting her an, denn Mitte des 21. Jahrhunderts hat Brins Menschheit schon einiges an einschneidenden Ereignissen hinter sich. Fluten, Verwüstung und Epidemien in Folge des Klimawandels. Eine Serie schmutziger Nuklearanschläge auf Städte, insbesondere in den mittlerweile balkanisierten USA. Den Big Deal, eine Neuorganisation der Weltgesellschaft in zehn voneinander möglichst getrennte Estates, angefangen bei der Sphäre der Superreichen über die geschwächten Staatsregierungen und die Wirtschaft bis zur zehn Milliarden Angehörige umfassenden Masse von Otto Normalverbraucher. Und eine fortgeschrittene Informationstechnologie, die die ersten Künstlichen Intelligenzen und neue Phänomene wie Smart-Mobs (Ad-hoc-Zusammenschlüsse von Menschen, die gemeinsam ein Thema ergründen), aber keine Privatsphäre mehr kennt. Der städtische Alltag lässt sich durch hunderte verschiedene Schichten von virtuellen Overlays betrachten - und der ohnehin wortspielverliebte Brin ("Mickey Mao") hat Gelegenheit, am laufenden Meter Neologismen auszuwerfen: aixperts, aiconomy, vaura, virld, usw. usf. Glücklicherweise erschließen sich die allesamt unmittelbar aus dem Kontext. So surft man - quasi wie auf einem skutr - an und für sich erstaunlich leicht durch diese pralle neue Welt.
... die, wenn man's ganz genau nimmt, nur eine Fortschreibung unserer Gegenwart ist, eskaliert bis zu einem Grad, ab dem etwas grundlegend Anderes kommen muss. Durch sämtliche Subplots des Romans zieht sich die Gewissheit, dass entweder ein fundamentaler Wandel bevorsteht - oder das Ende. Die Kernfrage des Romans lautet also: Wohin will die Menschheit? Eine der im Roman agierenden Interessengruppen, das Renunciation Movement um einen pseudoindianischen Propheten, propagiert die Abkehr vom hochtechnologischen Weg ... und von der Demokratie als nicht-nachhaltiger Organisationsform gleich dazu. Brins Antwort sieht naturgemäß anders aus, ganz wie man es von einem Wissenschafter und SF-Autor erwarten darf.
Soweit die Ausgangslage. Und nun schlägt in diesen ohnehin schon aufgewühlten globalen Teich fast wortwörtlich zu nehmen ein Stein ein und schlägt Wellen. Ein kristalliner Brocken nämlich, der die virtuellen Kopien diverser Außerirdischer enthält (und wie in Brins populären "Uplift"-Romanen fühlt man sich dabei ein bisschen an Brehms Tierleben erinnert). Die überbrachte Botschaft der Aliens gefällt allerdings niemandem, denn sie kündet vom unvermeidlichen Ende nicht nur der Menschheit, sondern jeder technologischen Zivilisation. Bis andere Kristalle auftauchen und den ersten einen Lügner schimpfen.
Illustriert wird das Giga-Szenario anhand einiger Hauptpersonen (mit Vorbehalt): Gerald Livingstone, ein Astronaut und Weltraummüllsammler, der den ersten Kristall zur Erde bringt. Peng Xiao Bin, ein armer Schlucker, der davon lebt, was er aus den überfluteten Teilen Shanghais birgt, und in den Fokus konkurrierender Gruppierungen gerät, als er einen weiteren Kristall findet. Hamish Brookeman, ein cross-medialer Starautor von alarmistischen Wissenschaftsthrillern, der für das Renunciation Movement arbeitet. Die schwerreiche Lacey Sander, die ein Observatorium betreibt, und ihr verwöhnter Sohn Hacker, der nach einem missglückten Orbitaltrip im Ozean landet und dabei auf eine Gruppe ungewöhnlich intelligenter Delfine stößt (hier setzt Brin einen netten Verweis auf seine "Uplift"-Romane). Und die Journalistin Tor Povlov, die bei einem Terroranschlag verstümmelt wird und fortan mit künstlichen Sinnen und ausgelagerten Bewusstseinsteilen als eine der ersten transhumanen Personen weiterlebt.
Doch geht bei Brin Prozess vor ProtagonistInnen. So wird das Wiedersehen von Hacker und Lacey, das eigentlich ein emotionaler Höhepunkt sein müsste, lediglich per Nachsatz kurz erwähnt, Hacker verschwindet daraufhin ganz aus der Handlung. Und das ist nur ein Vorbote: Vor dem letzten Viertel des Romans erfolgt ein Zeitsprung, bei dem fast alle bisherigen Hauptfiguren verloren gehen. Mit Müh und Not kann man sich aus einigen Nebensätzen rekonstruieren, was aus ihnen geworden ist. Auch der Ausgang von über hunderte Seiten hinweg aufgebauten Subplots wie dem Putsch der Superreichen oder der Jagd auf eine Frau, die ein Baby mit rekonstruierter Neandertaler-DNA austrägt, wurde mittlerweile entschieden, ohne dass wir dabei sein hätten dürfen. Das ist ein echtes Unding. Selbst wenn die beiden Schlussteile für sich wieder sehr interessant sind, fühlt man sich da einfach betrogen.
Brins Stars sind eben nicht die Menschen, sondern die Konzepte, über die sie in Diskussionen, inneren Monologen und einer Vielzahl den Haupttext begleitender Dokumente aus fiktiven Quellen (darunter Pandora's Cornucopia, ein Füllhorn möglicher Weltuntergangsszenarien) philosophieren; David Brin hat seine Website übrigens explizit zur Plattform für weiterführende Diskussionen gemacht. Und die Namen der Stars, um nur einige zu nennen, lauten: Medea-Hypothese (siehe Robert Charles Wilsons "Vortex"). Das Fermi-Paradoxon und die Suche nach dem "Big Filter", der die Entstehung interstellar kommunizierender Zivilisationen verhindert. Positive Sum Games und Steven Pinkers jüngst veröffentlichter Befund in "The Better Angels of Our Nature", wonach das Ausmaß der weltweiten Gewalt trotz gegenteilig erscheinender Berichterstattung konstant am Sinken sei. Und John von Neumanns Konzept von selbstreplizierenden Weltraumsonden, das hier in eine fiese virale Richtung weitergedacht wird.
... nicht zu vergessen originelle Gedankenspiele, die zumindest zum Teil ihren Reiz haben. So wird Autismus hier als alternativer Weg der menschlichen Evolution gezeichnet. Und - das hat wirklich was für sich - die selbstgerechten Tiraden von Demagogen werden als Fall für die Medizin erkannt: Als Abhängigkeit vom Rausch des eigenen Hasses - analog zu Menschen, die der Spielsucht verfallen sind. Und eine Idee, die Brin bereits in "Earth" ausgesprochen hatte, ist in ihrer Logik so verblüffend (und hätte in einer besseren Welt das Potenzial zur Versöhnung feindlicher Lager), dass sie hier zu Recht noch einmal wiederkehrt. Preisfrage: Was war der ursprüngliche Auftrag des christlichen Gottes an den Menschen? Was also sollten wir eigentlich tun, wenn sich nicht seit dem Sündenfall alles nur mehr um "Schadensbegrenzung" gedreht hätte? Die Antwort gibt Genesis 2.19: "Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen." Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Erschließung der Welt.
Eine alte Faustregel der Phantastik besagt, dass unter ihren drei großen Kindern die Science Fiction den Kopf anspricht, die Fantasy das Herz und der Horror die Eingeweide. In Sachen SF ist "Existence" eine 550-seitige Beweisführung.