Stefanie Jasper: "Betroffene ohne Depressionen oder andere psychische Belastungen sind oft jene, die eine starke soziale Unterstützung haben."

Foto: Medizinische Hochschule Hannover/Kaiser

Die Umgebung reagiert auf Menschen mit Gesichtsverletzungen verunsichert, die Patienten selbst brauchen oft lange, bis sie sich mit dem veränderten Äußeren auseinandersetzen. Je schneller die Betroffenen die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen, desto seltener werden sie chronisch depressiv, sagt Stefanie Jasper, psychologische Betreuerin am Schwerbrandverletztenzentrum der Medizinischen Hochschule Hannover.

derStandard.at: Wie reagieren Patienten im ersten Moment auf ihre Entstellungen?

Jasper: Auf der Intensivstation gibt es keine Spiegel, daher wird die optische Veränderung, etwa nach einem Brandunfall, erst an der Reaktion der Besucher klar, die im ersten Moment häufig erschrecken oder zurückweichen. Manche Patienten fragen dann nach einem Spiegel, viele aber brauchen länger, bis sie sich mit ihrem veränderten Äußeren auseinandersetzen.

Das ist ein Selbstschutz, weil das Gehirn durch das erlebte Trauma zunächst mit der Situation überfordert ist und daher versucht, alles zu vermeiden, was damit zusammenhängt. Dieser Schutz wird dann schrittweise mit psychologischer Hilfe abgebaut. Das ist oft ein langer Weg, weil die Vermeidung als entlastend erlebt wird und beruhigend ist.

derStandard.at: Wie werden Patienten auf die Reaktionen in der Öffentlichkeit vorbereitet? 

Jasper: Wir üben mit Rollenspielen. Es wird beispielsweise nachgestellt, wie ein Patient darauf reagiert, wenn er angestarrt wird. Möchte er die Person dann direkt ansprechen? Möchte er offen über sein Aussehen reden oder nicht? Die Öffentlichkeit reagiert ja zunächst immer irritiert auf einen entstellten Körper. Daher muss der Patient lernen, trotz sichtbarer Verletzungen selbstbewusst zu bleiben und die Situation im Griff zu haben.

derStandard.at: Inwieweit lernen Patienten mit Gesichtsverletzungen, anders zu kommunizieren?

Jasper: Wir neigen alle dazu, das Gesagte mit Mimiken zu unterstreichen. Das können entstellte Personen oft nicht mehr. Die komplette Mimik steht ja nicht mehr als Kommunikationsmittel zur Verfügung. Die Patienten müssen verstehen, warum Mitmenschen ihre Mimiken im Gespräch nicht richtig deuten können.

Weil die Umgebung so verunsichert reagiert, sind die Patienten meist sehr zurückhaltend und selbst verunsichert. Sie müssen lernen, sich klar verbal auszudrücken, weil die nonverbale Kommunikation mit anderen gestört ist. Außerdem sollte in der Umgebung der Patienten ein Bewusstsein für die veränderte Kommunikation geschaffen werden. Wir beziehen daher oft die Angehörigen in die Therapie mit ein.

derStandard.at: Wie ändert sich bei entstellten Menschen das Gefühl für den eigenen Körper?

Jasper: Neben den chronischen Schmerzen haben die Patienten mit Entstellungen eine stärkere Hautspannung. Sie werden so häufig mit ihrem Körper konfrontiert und entwickeln teilweise ein sehr negatives Körperbild. Um ein ausbalanciertes Körpergefühl zu bekommen, helfen etwa Entspannungsübungen. Außerdem ist es wichtig, dass sie lernen, mit sich selbst umzugehen. Dazu gehört auch, die Narben am Körper selbst zu pflegen. Patienten scheuen sich oft, ihren eigenen Körper zu berühren und sich so mit den Veränderungen aktiv auseinanderzusetzen.

derStandard.at: Sind Depressionen eine häufige Begleiterkrankung?

Jasper: Die Literatur ist sich da nicht einig. Viele Forscher sagen, dass die Depressionsraten kurz nach dem Trauma gering sind und die Belastung nach der Entlassung aus der Klinik beginnt. Dann nämlich müssen sich die Patienten mit den Reaktionen des sozialen Umfelds auseinandersetzen. Andere sagen, dass die Patienten anfangs depressive Symptome zeigen, sich aber im Laufe des stationären Aufenthalts bereits erholen.

Das liegt an der Selbstheilungskraft der Patienten: Nicht alle, die einen schweren Unfall oder eine Erkrankung mit anschließenden Entstellungen erlebt haben, werden auch chronisch psychisch krank. Und einige Forscher sind der Meinung, dass Depressionen bei Entstellten nicht häufiger vorkommen als in der allgemeinen Bevölkerung. Wichtig ist aber, dass man die Symptome frühzeitig erkennt, um psychische Langzeitfolgen zu verhindern.

derStandard.at: Was kann die Patienten davor schützen, depressiv zu werden?

Jasper: Betroffene ohne Depressionen oder andere psychische Belastungen sind oft jene, die eine starke soziale Unterstützung haben. Da wird auch sehr offen über die äußere Veränderung und die Belastungen gesprochen. Hilfreich ist es außerdem, wenn Patienten schnell ihre sogenannte Selbstwirksamkeit zurückbekommen, wenn sie also schnell wieder die Kontrolle über ihren Körper und den Alltag haben - etwa ohne Hilfe des Pflegepersonals aufzustehen und alleine Zähne putzen zu können. Das ist für die Prognose gut. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 19.9.2012)