"... weil diese Stadt, einst lebendig, seit Jahren am Sterben ist": eine Straßenszene aus Tsuyama.

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Milena Michiko Flašar: "Aus den Lautsprechern kam dieselbe Musik wie früher, doch die Magie hatte sich verflüchtigt und einer fast gespenstischen Stimmung Platz gemacht."

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Wenn ich an Tsuyama denke, die Heimatstadt meiner Mutter, dann befällt mich neben all der Freude, die ich damit verbinde, auch eine tiefe Traurigkeit, weil diese Stadt, einst lebendig, schon seit Jahren am Sterben ist.

Ein Schicksal, das sie mit vielen anderen Städten teilt und welches trotzdem ein einzelnes ist, insoweit es die einzelnen Menschen betrifft, die darin wohnen. Zum Beispiel Frau Horie, die Regenschirmverkäuferin.

Die Stadt, darunter verstehe ich ihr innerstes Zentrum, die überdachten Einkaufsstraßen, die sogenannten Shotengais. Sie sind das Herz einer jeden japanischen Stadt, zumindest waren sie das einmal, und es ist dieser Kontrast, früher und heute, der meiner Traurigkeit einen bittersüßen Geschmack beigibt.

Als Kind habe ich jeden zweiten Sommer in Tsuyama verbracht, und damals, wohl weil ich klein war, erschienen mir die Shotengais wie ein großes, unendlich großes Labyrinth, voller Magie. Da war der Friseur mit dem typischen Signpole vor dem Geschäft, einer sich spiralförmig drehenden Säule in den Farben Blau, Weiß und Rot, der Topf- und Eisenwarenhändler, die Takoyaki-Bude, wo man gebackenen Oktopus zu essen bekam. Der Süßwarenladen, bis oben hin mit Schokolade gefüllt, das laute Rasseln von Metallkugeln aus der Pachinko-, einer Glücksspielhalle, und gleich daneben das buddhistische Devotionaliengeschäft, in dem es nach Räucherstäbchen roch.

Geprassel des Regens

Aus den Lautsprechern kam Musik. In der Regenzeit, meist Anfang Juni bis Mitte Juli, konnte man das Geprassel des Regens hören, welches sich mit der Musik zu einer einzigartigen Melodie vermischte, und wer seinen Schirm zu Hause vergessen oder ihn irgendwo liegengelassen hatte, lief, klitschnass wie er war, in den Laden von Frau Horie, um sich einen zu kaufen.

Ich liebte diesen Laden, und das nicht, weil er schön war, denn das war er ganz und gar nicht, mehr ein Verschlag mit nacktem Betonboden, sondern weil von ihm und seiner Besitzerin etwas ausging, wofür ich erst heute, Jahre später, ein Wort finde, nämlich Würde. Wobei dasselbe Wort auch für all die anderen Läden gilt, die sich über Generationen hinweg einem bestimmten Handwerk verpflichtet haben und die, von der Zeit überrollt, ihr zunächst nachhinkend, am Ende weit hinter ihr zurückbleiben, weil immer dann, wenn sie Atem schöpfen, gerade dann die Zeit noch schneller über sie dahinrollt, als sie es ohnehin schon tut.

Bessere Tage

Frau Horie, aus meinen Kinderaugen betrachtet steinalt, Mitte sechzig, gehörte mit ihrem Laden zu denjenigen, die trotz ihres Alters dafür sorgten, dass die Stadt lebendig war, und zwar sorgten sie dafür, indem sie den Dingen, die sie verkauften, einen Wert beigaben, der weit über den materiellen hinausging. Frau Horie etwa verkaufte nicht einfach nur Regenschirme, nein.

Sie verkaufte zusätzlich eine Geschichte. Die Geschichte ihrer Familie, eingebettet in die Geschichte der Stadt. Die Geschichte ihrer selbst, eingebettet in die Geschichte derer, die mit ihr das Bild der Shotengais prägten. Oft genug kam ich mit meiner Großmutter bei ihr vorbei und hörte zu, wie sie sich über ihre beginnenden Wehwehchen austauschten, und bald genug kamen andere dazu, alles Älterwerdende oder schon Altgewordene, die zwischen den in Reihen aufgespannten Regenschirmen standen, sich meistens erinnerten, an bessere Tage.

Landflucht und Vergreisung. Schon damals kündigte sich an, dass die Stadt, aufgrund mangelnder Perspektiven für die Jungen, zur bloßen Hülle einer Stadt werden würde. Im Zweijahrestakt konnte ich mitansehen, wie ein Geschäft nach dem anderen dichtmachte, sogar die Glücksspielhalle mit ihren glitzernden Automaten. Stattdessen wurden Kaufhäuser errichtet, an den äußersten Rändern der Stadt, sodass die Leute immer weniger im Zentrum einkauften, das Zentrum dadurch nach und nach verfiel, bis auch dort ein Kaufhaus errichtet wurde und die kleinen Läden rundherum wie schäbige Überbleibsel aus einer fernen und fremden Vergangenheit wirkten. Sie zu sanieren oder gar von Grund auf zu erneuern, dazu fehlte es den Besitzern an Kapital und wohl auch an Kraft und Beweglichkeit, da die meisten von ihnen einem traditionellen Berufsbild anhingen.

Ein Süßwarenhändler bot ausschließlich Süßwaren an, eine Regenschirmverkäuferin nichts anderes als Regenschirme. Und diese einseitige Ausrichtung auf nur ein Angebot passte schlecht in eine Zeit, in der jede Tankstelle, jeder Supermarkt, jede Drogerie, nicht immer preisgünstiger, aber schlichtweg praktischer, die gleichen Süßwaren und Regenschirme anzubieten begonnen hatte. Einige hielten sich, so wie Frau Horie, doch die Frage "Wie lange noch?" stand ihnen allen sehr deutlich ins Gesicht geschrieben. Und auch die Antwort, ein fatalistisches "Solange es geht".

Als ich das letzte Mal, vor einem halben Jahr, in Tsuyama war, glichen die Shotengais an manchen Stellen einem leergeräumten Museum. Aus den Lautsprechern kam dieselbe Musik wie früher, doch die Magie hatte sich verflüchtigt und einer fast gespenstischen Stimmung Platz gemacht. Hier und da schlurfte einer am Gehstock vorbei, dann wieder lange, sehr lange niemand. Dort, wo Frau Horie ihren Laden gehabt hatte, fand ich eine asphaltierte Fläche vor.

Fünfhundert Yen das Stück

Einen Parkplatz für die Mitarbeiter des Kaufhauses, welches allerdings ebenfalls nahe daran war, in Konkurs zu gehen. Wohin ich schaute, heruntergelassene Rollläden, von Rost zerfressen. Und wer saß da eines Abends, auf dem Parkplatz, mit krummem Rücken? Frau Horie! Ich konnte es zunächst nicht glauben.

Sie hatte sich auf einen mit gebrachten Klappstuhl gesetzt, neben sich einen Eimer voll Regenschirme, die sie für fünfhundert Yen das Stück verkaufte, und sah nicht recht anders aus als hinter dem Ladentisch, nur dass um sie herum keine Wände waren. Die weißen Haare im Dämmerlicht. Ein Denkmal, welches zu sagen schien: "Es geht noch." Und so saß sie da und starrte ins Leere, hing jenen Tagen nach, in denen die Stadt und mit ihr sie selbst den Höhepunkt ihrer Blütezeit erlebt hatte.

Ich sah sie noch öfters, immer am selben Platz, sah, wie sie einen der Schirme aus dem Eimer nahm, ihn auf- und wieder zuspannte, ihn nach rechts, dann nach links drehte, ihn zusammenfaltete, die Hand um den Griff, wie sie ihn abstellte und endlich losließ, so vorsichtig, als ob es sich dabei um einen zerbrechlichen Gegenstand handeln würde, und vielleicht, wer weiß es?, ist er das auch.

Wenn jemand festhält, wider die Vergänglichkeit, an etwas Zerbrechlichem festhält, dann liegt darin, das war mein Gedanke, als ich Frau Horie an ihrem Platz sitzen sah, eine ungeheure Traurigkeit und zugleich Schönheit, und nur zu gerne hätte ich sie gefragt, woran sie da eigentlich festhielt. Hätte ihr gerne die Frage gestellt: "Wofür steht ein Regenschirm?" Aber irgendwie erklärte sich das von allein, indem sie, schon über die neunzig, zwar dazu gezwungen gewesen war, ihren Laden herzugeben, nicht aber die Geschichten, die ihn erfüllt hatten. Und so glaube ich, dass ein Schirm für sie nicht nur ein Ding, sondern ein Ort, mehr noch, ein in sich abgeschlossenes, vollkommen eigenständiges Universum ist, ein Raum jenseits der Räume, unter dessen schützendem Dach ein Menschenleben geht und steht, auch wenn sie es wahrscheinlich gar nicht so ausdrücken würde, eher erstaunt wäre über eine derartige Definition.

Filme aus dem Vorjahr

Am Tag meiner Abreise ging ich noch einmal durch die Stadt, um mich von ihr zu verabschieden. Von dem Musikgeschäft etwa, in dessen Auslage verblichene Kassetten noch weiter vor sich hin bleichten, von dem Papierwarenladen, in dem der Verkäufer, wenn er eine Rechnung schrieb, die Spitze des Kugelschreibers anfeuchtete. Von dem Geschäft für Unterwäsche, das es nicht mehr gab, weil mit der Musikhochschule die Studentinnen weggezogen waren. Von dem alten Kino, das die Filme des Vorjahres zeigte, lauter Filme, die schon längst im Fernsehen gezeigt worden waren. An manchen Stellen hatte die Stadt aber auch ein neues Gesicht bekommen.

Voller Überraschung stieß ich zum Beispiel auf ein Manga Café, wo man sich in Kabinen einmieten, darin lesen oder im Internet surfen, ja sogar die Nacht verbringen kann. Der Besitzer, ein Mittzwanziger, hatte die Idee aus Tokio mit nach Hause gebracht - und auf meine Frage, wie es läuft, sagte er: "Ganz gut."

Mit Blick auf ein paar Schüler, die gerade hereinkamen und sich aufs Sofa fläzten. "Und auch die", sagte er, "bringen vielleicht einmal eine Idee mit nach Hause. Das wäre schön."

Der Lauf der Dinge

Ja, möchte ich ihm beipflichten. Es wäre schön, wenn etwas nachkäme und wenn das, was ich eingangs als Sterben bezeichnet habe, in Wahrheit nur der natürliche Lauf der Dinge wäre, der auch ein Wiederaufleben miteinschlösse. Frau Horie aber werde ich als eine der Letzten ihrer Zeit in Erinnerung behalten, als eine derjenigen, die meine Kindheit verzaubert haben.

"Einen Regenschirm, bitte. Den blauen."

"Ja, die blauen sind besonders hübsch."

Mit einem zahnlosen Lächeln streckte sie mir den Schirm entgegen, und wenn ich ihr im Gegenzug nicht die fünfhundert Yen hingehalten hätte, ich glaube, sie hätte vergessen, dass ich sie ihr schuldig war.

"Vielen Dank", lächelte sie und verbeugte sich im Sitzen. Der Klappstuhl, auf dem sie saß, verbeugte sich mit.
(Milena Michiko Flašar, Album, DER STANDARD, 7./8.7.2012)