Rückspiegelung am Strand der Kindheit: Die französische Filmemacherin Agnès Varda sucht in "Les plages d'Agnès" nach Wegen, die eigenen Erinnerungen sichtbar zu machen.

Foto: Stadtkino

Über Puzzles, Zufälle und Katzen.

Wien - Agnès Varda, liebevoll die Großmutter der Nouvelle Vague genannt, blickt in ihrem autobiografischen Filmessay "Les plages d'Agnès" ("Die Strände von Agnès") auf ihre Anfänge als Künstlerin und fast ein halbes Jahrhundert Erfahrungen im Film zurück. Es ist kein nostalgischer Film geworden, sondern einer, der die Vergangenheit als lebendigen Teil der Gegenwart begreift. Drei Jahre hat es gedauert, dass die Arbeit die österreichischen Kinos erreicht - die hiesigen Arthouse-Verleiher disponieren selbstständig über den geeigneten Starttermin, was mitunter Verzögerungen ergibt. Dem Sommer sei Dank, dass diese kleine, aber lebenskluge Produktion nun doch eine Nische findet.

Standard: Würde man nach einem Begriff für den Film suchen, fiele einem Erinnerungsbuch ein. Wie bezeichnen Sie diesen denn?

Varda: Offiziell handelt es sich um einen Dokumentarfilm, aber das stimmt natürlich nicht ganz. Es handelt sich um einen Film zwischen den Gattungen, zwischen Dokumentarfilm und Tagtraum. Ich mache es schon in der ersten Sequenz in Belgien ganz klar: Ich installiere Spiegel auf den Stränden, an denen ich bis in die 1940er-Jahre mit meiner Familie oft war. Man sieht die Spiegel und mich, mit dem Schal im Wind. Aber ich betrachte nicht mich darin, sondern zeige stattdessen die Wellen, den Sand, die Studenten. Damit schaffe ich die Regeln für das Spiel: Natürlich ist vieles davon autobiografisch, aber der Film ist mehr als ein Selbstporträt. Die Frage war, wie man Erinnerung sichtbar machen kann.

Standard: Darauf finden Sie viele Antworten. Ihr Kino wurzelt in eigenen Erfahrungen, weitet sich aber auch ins Politische aus.

Varda: Es ging mir darum, etwas zu sagen, ohne zu viel zu sagen. Darum, die große Geschichte vage hinter meiner kleinen Geschichte durchscheinen zu lassen. Der Film ist auch eine Übung über das Kino an sich. Der Krieg, die Judenverfolgung, die Black Panthers, die chinesische Revolution, Castro, Che und all die Fragen um die Befreiung der Frauen: Ich war mittendrin, die kleine Agnès. Ich bin ständig auf Dinge gestoßen, die ich nicht verstehen konnte, wusste lange nicht, was Männer und Frauen miteinander tun.

Standard: Entwickelt sich Ihre Reise deshalb sprunghaft, assoziativ?

Varda: Natürlich, das Leben ist auch keine Linie. Die Koinzidenzen kamen, und man muss sie wahrnehmen. Es ist wie ein Puzzle, denn man ist sich auch selbst ein Puzzle. Wer weiß schon alles über sich? Man kennt stets nur Teile, manche davon passen, andere gar nicht. Und wir sind voller Widersprüche. Solche Widersprüche finden sich auch zwischen Realität und Einbildung. Es gibt etwa den Widerspruch zwischen dem Umstand, ein Kind zu bekommen, und "L'Opéra-Mouffe" zu drehen, einen kurzen Film über die Desaster des Lebens.

Standard: Godard hat einmal gesagt, dass Bewegungen entstehen, wenn sich zwei oder drei Leute treffen und miteinander sprechen. In Ihrem Leben ist das öfters passiert, wenn man etwa an die Pariser Rive-Gauche-Bewegung denkt, mit der Sie verbunden waren.

Varda: Man braucht auch Glück. Beispielsweise als ich als junge Frau in Sète diese drei Schwestern traf, die wie aus dem Stück von Tschechow wirkten. Die älteste heiratete den Theaterschauspieler und -regisseur Jean Vilar. Ich machte Fotos von ihm und den Kindern, dann gründete er das Festival von Avignon, und er fragte mich, ob ich kommen und helfen wollte. So wurde ich 1950 zur Fotografin des Festivals. Die zweite brachte mir die Natur nahe, und die dritte war eine gute Freundin, die mich den Fischern vorstellte - was mich zu meinem ersten Film, "La Pointe Courte", inspiriert hat.

Standard: Fiel es Ihnen nicht schwer, nun so viele Orte der Erinnerungen aufzusuchen?

Varda: Nein, das war keine Anstrengung, sondern bereitete mir großes Vergnügen. Das Wichtigste ist, die Erinnerung in die Gegenwart zu holen. Am Ende sage ich einmal: Ich erinnere mich, während ich lebe. Das ist der Schlüssel. Ich bin am Leben. Ich erinnere mich. Ich muss die Vergangenheit also in mein Leben überführen. Wie in der Passage mit dem Boot zu Beginn des Films, wo ich durch den Hafen von Sète fahre und im Paris von heute ankomme.

Standard: Wie wichtig war es für Sie, selbst aufzutreten - als eine Art Fremdenführer durchs Leben?

Varda: Ich ziehe mir einfach gerne ein Kostüm über, weil ich es mag, wenn die Leute über mich lachen. Ich glaube auch, dass ich ein guter Clown bin. Zudem gibt es Momente, in denen ich sehr feinfühlig werden muss: wenn ich über Jacques Demys Tod spreche. Ich zeige sein Haar aus großer Nähe, es sieht wie eine Landschaft aus. Ein sehr schönes Bild, doch es geht natürlich auch darum, etwas auszudrücken, das beim Betrachter etwas bewirken kann. Die Toten sind immer um mich herum.

Standard: Wie haben Sie die Puzzleteile beim Schnitt geordnet?

Varda: Ich musste eine sehr filigrane "cinécriture" finden, einen filmischen Text, in dem alles kohärent bleiben würde, sodass man mir auf meinen Umwegen folgen kann. Die sind schließlich interessanter als die Linien. Alain Resnais, der den Schnitt von "La Pointe Courte" machte, lehrte mich einmal, dass man nichts ändern sollte. Er sagte, man kann nichts besser, man kann es nur richtig machen. Ich war ihm dafür sehr dankbar. Ich habe viele Menschen getroffen, die mir dabei geholfen haben, ich selbst zu werden.

Standard: Wie Chris Marker, der nur als Katze Guillaume-en-Egypte im Film zu sehen ist.

Varda: Er wollte als Person nicht vorkommen.

Standard: Wer hatte dann die Idee, ihn als Katze zu zeigen?

Varda: Das war meine Idee. Aber ich musste um Erlaubnis fragen, seine Katze benützen zu dürfen.
(Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 6.7.2012)